Reise

Lost in Ramallah

Straßenszene in Ramallah Foto: imago/ZUMA Press

Reise

Lost in Ramallah

Wie leben eigentlich die Menschen im Westjordanland? Unser Autor fuhr mit drei Freunden hin

von Joachim Lottmann  17.11.2019 18:02 Uhr

Pünktlich um neun Uhr morgens wurde ich angerufen. Meine Wohnung hatte keine Türklingel, aber Michael hätte sie auch nicht benutzt. Er blieb im Auto und wartete. Leute wie er verspäteten sich nicht. Als ich nicht sofort erschien, rief er ein zweites Mal an.

Es war mir wichtig, attraktiv auszusehen, schließlich trafen mich gleich die Blicke Anouks, und so fönte ich noch umständlich und zeitraubend das Haar, was ich seit meiner mündlichen Abiturprüfung nicht mehr getan hatte. Ich war auch seitdem nicht mehr so früh aufgestanden.

Zu meiner Überraschung handelte es sich um ein kleines, schäbiges, ungewaschenes Auto mit Schrammen und Beulen. Das war klug gewählt. Die Terroristen sollten uns nicht für reiche Israelis halten, nahm ich mal an. Anouk kletterte gerade wütend aus dem Auto, als ich aus der Tür trat, sie wollte mich wohl holen kommen.

Äußerlich war sie kaum wiederzuerkennen. Sie trug khakifarbene Tropenkleidung, dazu ein feines, luftiges, silberweißes Hermes-Halstuch. Sie wirkte noch schlanker und selbstbewusster als ohnehin schon, vielleicht, weil ihr die Hose eine halbe Nummer zu groß war. Oder eben, weil sie angespannt war. Ins Westjordanland zu fahren, war ja alles andere als lustig. Ich sah mir Michael an, in welcher Stimmung der war, und fand denselben Ernst vor. Von der gutmütigen Heiterkeit unserer Nacht im Techno-Tempel war nichts geblieben.

Ich musste neben dem Fahrer sitzen. Er hieß Corey, war Jude und stammte aus Kanada. Sein Kopf war kugelrund und kürbisgroß, sein Bauch ebenso, sein ganzer Körper liebte die runde Form. Seit 15 Jahren lebte er in Israel, präziser formuliert: zwischen Israel und Palästina. Vielleicht hatte sein Aussehen damit zu tun, und sein Auto. Er musste harmlos und teddybärhaft wirken, kindlich rund, vertraut und vertrauensvoll, damit die arabischen Kontrollposten ihn immer durchließen und mit Schikanen verschonten.

»Habt ihr Pässe dabei?«, fragte Corey.

Natürlich hatten wir sie dabei. Ich kramte meinen aus dem Sakko, dazu mein altes Handy. Sicherheitshalber hatte ich das neue Smartphone in der Wohnung gelassen, ebenso andere wertvolle Dinge, etwa Geld und Kreditkarten. Das alte Handy, ein frühes iPhone 4, steckte in einer Hülle mit der israelischen Fahne drauf. Als der Fahrer das sah, flippte er zum ersten Mal aus. »Wenn sie das sehen, töten sie dich, sofort! Wenn du eine Israelfahne hast, oder eine Kippa trägst, oder wenn du Hebräisch sprichst, töten sie dich.« Ich presste das alte Handy aus dem Hartplastikrahmen und warf ihn weg. Schade. Es hatte schön ausgesehen, das iPhone 4 von 2008, so neu. Der Satz »dann töten sie dich« hallte natürlich in mir nach.

Da die Debatte dennoch lebhaft war, vor allem durch das aufgeregte Erlebnisgeplapper des Kanadiers, der mit seinem breiten Amerikanisch mit nichts hinter dem Berg hielt, war man flugs an der Grenze gelandet. Es dauerte nur ein paar Viertelstunden, bis wir die Ausläufer von Ramallah erreichten, der Hauptstadt des Westjordanlandes, den Regierungssitz der Palästinenser.

GELD Der Trubel überraschte uns. Von Straße zu Straße wurde es turbulenter, hektischer, ich will nicht sagen arabischer, eher wildwesthafter. Als hätte ein mächtiger Gott den Geschirrschrank umgestoßen, krabbelten Millionen Menschen erregt auf den Scherben, fühlten sich aber gut dabei. Es war diese vitale Lebendigkeit, die ich gerade noch so vermisst hatte.

Nicht von Anfang an. Es steigerte sich allmählich. In den Vorstädten war es eher noch die besinnungslose Geschäftigkeit nach einem Bombenangriff, dann, in dem Zentrum, das die Ausmaße einer echten Metropole hatte, überwog die Lebensfreude, das Einkaufen, die zweckfreie Kommunikation.

Nicht, dass ich jemals lachende junge Leute gesehen hätte, Jungen und Mädchen, die miteinander flirteten, wie auf dem Boulevard Rothschild in Tel Aviv, am Ende gar sich liebende Frauen und fröhliche, freche, einander untergehakte junge Männer, oh nein, eher fiel die Sonne vom Himmel. In strenger Geschlechtertrennung lebte die Bevölkerung dahin, aber nicht schlecht, nicht geschlagen vom Schicksal, nicht darbend und zerknirscht.

UNO Corey meinte, es sei in den letzten 20 Jahren wirtschaftlich steil aufwärts gegangen mit diesen Leuten. Ramallah sei auf die fünffache Größe angewachsen, dank der ewigen Milliarden von der UNO und all den internationalen Hilfen, auch von Deutschland. Und es stimmte. Auch wenn kein deutscher Politiker den Grund wusste, hatte Berlin allein in der Ära Merkel einen zehnstelligen Betrag in diesen Landstrich gepumpt. Auch wenn neun von zehn Euro bei korrupten PLO- beziehungsweise Hamas-Funktionären versickerten, blieb immer noch genug Geld für diese Menschen hier übrig, die sich darüber freuten. Und ich mich mit ihnen.

Die Sache mit den geschlachteten Kindern kam immer als Erstes.

Ich wunderte mich immer noch, dass Corey, der Jude, und Michael, auch Jude, und Anouk, die Frau ohne Kopftuch, nicht in Gefahr waren, nicht bedrängt wurden. Welche Gesetze und Regeln galten denn nun? Ich bekam es allmählich mit, als Corey mit seiner Arbeit begann, denn die war nichts anderes, als Interviews mit den Leuten zu machen. Deswegen fuhr er hin und her. Für seinen Fernsehkanal. Und die Universität in Tel Aviv, an der er einen Lehrstuhl für Konfliktforschung innehatte. Fast 800 Menschen hatte er schon befragt.

FRAGEN Da er so viele Bewohner von Ramallah schon befragt hatte, traf er alle zehn Meter auf Leute, die ihn kannten. Die Begrüßung war meist überaus herzlich. Einmal umarmte ihn eine Frau so lange, wirklich minutenlang, dass ich am Ende fest davon ausging, es sei seine Geliebte. Darauf angesprochen, erklärte er nüchtern, er sei homosexuell, wenn auch gerade getrennt lebend, leider. Sein Ex-Mann sei in Kanada geblieben. Auch noch schwul! Ich fasste es nicht.

Auf Corey Zettel standen die Fragen, etwa 20 an der Zahl. Sie waren recht grundsätzlicher Art, fand ich. Also etwa in der Art: Wie könnte es Frieden geben? Was steht im Koran über Israel? Sollten Juden in Palästina leben und arbeiten dürfen? Sollte die Regierung in Ramallah den Staat Israel unter bestimmten Bedingungen anerkennen, und welche wären das? Was würdest du mit einem Menschen tun, den du zufällig triffst und erfährst, dass er Jude ist?

Bei den antwortenden Menschen beobachtete ich rasch eine interessante Art der Performance, ein wiederkehrendes Verhalten, das vor allem durch Rhythmus und Motorik bestimmt war, durch ein bestimmtes Timing, und dadurch verbunden zu einer Liturgie wurde, in meinen Ohren zu Musik. Das ging so: Nach der Frage – es wurde jedem immer nur eine gestellt – sammelte sich der freiwillige Interviewpartner ein paar Sekunden lang. Nicht unbedingt, um nachzudenken, sondern um sich einzugrooven in den bevorstehenden Singsang. Er wollte sein Lied singen, und er wollte es natürlich schön singen. Nach den ersten tastenden, noch gestammelten Sätzen nahm sein Auftritt langsam Fahrt auf.

Und dann ging es los, dann ging die Post ab, und die eingelernte Ideologie stürzte zu Tal wie ein Gebirgsbach nach der Eisschmelze. Oder wie die hysterische Rede eines amerikanischen Fernsehpredigers, der das Geld der halb toten Witwen vor den TV-Geräten will. Israel sei kein Staat, Israel gebe es nicht, mit Israel könne und werde es niemals Verhandlungen geben, weil Israel nicht existiere. Israel wolle alle Palästinenser töten. Die Juden kämen jeden Tag ins Land und griffen sich Kinder, um sie zu schlachten und ihre Organe zu verkaufen.

Es kam danach noch vieles mehr, was die Juden alles Bestialisches täten, aber die Sache mit den geschlachteten Kindern kam immer sofort und als Erstes. Corey, der sich auch Gegenfragen beziehungsweise Antworten darauf erlaubte, konfrontierte die jungen Heißsporne gern mit einfachen Widersprüchen. So fuhren jeden Morgen Hunderttausende Palästinenser über die Grenze nach Israel, um dort zu arbeiten. Alle kamen abends wohlbehalten zurück, selbst die Jüngsten. Warum wurden sie nicht getötet? »Sie werden sie töten, das steht fest, sie warten nur noch auf die Gelegenheit!«

IDEOLOGEN Die Antworten der Mädels wirkten viel interessanter als die der Männer, weil nicht einstudiert. Man hatte das Gefühl, auf richtige Menschen zu treffen, nicht auf programmierte Ideologen. Sie lachten, guckten einem offen und nachdenklich ins Gesicht, waren selbst neugierig. Mit diesen Wesen konnte man reden. Statt hasserfüllter Monologe hatten sie erste, tastende Gedanken anzubieten, auf die man wiederum ähnlich ehrlich reagieren konnte. Innerhalb von Minuten kam man sich näher, sozusagen dem Frieden näher.

Leider brach Corey den schönen Friedensprozess irgendwann viel zu früh wieder ab, da sein Interview-Konzept anders lautete. Eine Frage, eine Antwort, und der Nächste bitte. Diesmal war wieder ein junger Mann dran, der etwas besonders Ekelhaftes vorbrachte: In einer anderen Stadt im Westjordanland hätten sie zwei israelische Soldaten gekriegt und überwältigt. Sie hätten ihnen die Herzen aus der Brust gerissen und im Triumphzug durch die Gegend getragen, unter dem unbeschreiblichen Jubel und Gegröle der Bevölkerung. Das sei sehr verständlich, bei allem, was die zionistische Armee den Palästinensern täglich antue.

Corey kannte den Fall schon. Jeder Palästinenser kannte die Geschichte. Sie konnte stimmen oder auch nicht. Es waren wirklich zwei Soldaten verschwunden, mehr war nicht klar. Ansonsten stimmten die Storys so gut wie nie. Man konnte sie beinhart widerlegen, und sie wurden trotzdem weitererzählt. Oder Dinge, die vor sechs Jahren geschahen, wurden mit anderen Elementen gemischt und als neu verkauft. Die Medien waren reine Propagandamaschinen. Es stimmte nie etwas. Das Wort Fake News konnte den Grad der Schwindelei nicht mehr ausdrücken. In dieser Welt zu leben, musste für einen vernünftigen Menschen das Ende sein. Sagte Corey. Aber vielleicht war hier niemand vernünftig?

So ist nun einmal die Kraft von Ideologien. Sie funktionieren genauso wie Religionen. Aber sie haben zum Glück eine klare Grenze. Außerhalb ihres Bereiches sind die Menschen gut, liebenswert und ohne Schuld – und zwar alle. So gesehen fiel es mir leicht, die jungen wütenden Antisemiten, die Corey interviewte, weder zu hassen noch zu verachten. Ich stellte mir einfach vor, wie lieb sie wohl waren, wenn sie nicht über Politik sprachen. Oder wie lieb sie wohl ihr ganzes Leben wären, wenn ihnen nie jemand etwas über das Weltjudentum und die bösen USA erzählt hätte. Oder wie lieb sie wohl alle werden würden, wenn der Islamfaschismus irgendwann einmal besiegt werden würde, wie damals der deutsche. Dann würden sie vielleicht so lieb werden wie die Deutschen heute.

Joachim Lottmanns Buch »Tel Aviv Storys« erscheint im kommenden Jahr bei Kiepenheuer & Witsch.

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