Eine Dorfschule im alten Russland. Der Lehrer fragt streng: »Was geschah 1799?« Die Kinder schweigen, sind ratlos. »Das ist das Geburtsjahr von Puschkin, ihr Dummköpfe!«, schreit der Schulmeister. Und als er sich beruhigt hat: »Aber was 1812 los war, das wisst ihr doch hoffentlich?« Alle Schüler schauen betreten, niemand antwortet, bis endlich Mendele sich schüchtern aus der letzten Reihe meldet. »Puschkins Barmizwa?«
Das ist der Lieblingswitz des Geigers Itzhak Perlman – und mittlerweile auch meiner. Trockene Zahlen als Gedenktage oder als Meilensteine der Geschichte sind mir zu abstrakt. Hildegard Knef hat es knackiger formuliert: »Als der liebe Jott die Zahlen schuf, war icke nich dabei.«
Abgenutzte Eselsbrücken
Peinlich, aber für weit entfernte Daten historischer Ereignisse überquere ich manchmal abgenutzte Eselsbrücken, die man allein ihrer Plumpheit wegen nicht vergisst. »333 bei Issos Keilerei«. Sorry, so beschämend wie: »Vier sieben sechs, Rom war ex.« Besonders scheußlich: »Eins vier neun zwei: Amerika schlüpft aus dem Ei.« Alles eine halbe Ewigkeit her, daher schwer zu merken. Kurt Tucholsky hatte festgestellt, dass den Menschen höchstens interessiert, was die Welt 40 Jahre vor seiner Geburt bewegte. Der Rest sei ihm egal. Überspitzt formuliert? Er hatte recht.
Ausnahmen bilden große biblische Erzählungen. Die laut Überlieferung an historische Ereignisse gebundenen Feste Pessach, Sukkot und Chanukka überdauern die Zeiten, ebenso in der christlichen Kultur die Geburt Jesu vor 2025 Jahren. Sonst nehmen politische und historische Daten erst dann im Gedächtnis Platz, wenn wir sie nachfühlen und mit eigenen Geschichten formen können. Geschichten, die uns bewegen.
Ob zwei Weltkriege, die Pogromnacht oder die Befreiung von Auschwitz: Die Daten kennen wir, obwohl alles vor unserer Geburt passiert ist. Unsere Eltern oder Großeltern haben gelitten. Wir spüren die historischen und persönlichen Auswirkungen noch heute.
Geschichtsträchtige Ereignisse
Ab Mitte des 20. Jahrhunderts rücken dann geschichtsträchtige Ereignisse als Zahlen noch näher, logisch, weil viele sie miterlebt haben. Die erste Erinnerung an mein kleines Ich war ein Urlaubstag in Österreich, der 13. August 1961. Meine Eltern wussten nicht, ob sie zurückkehren konnten nach Berlin. Ich war verzweifelt. Den Mauerbau verstand ich nicht. Aber was sollte zu Hause aus meiner Puppenschule werden, wenn wir in Tirol bleiben müssen?
Am 11. September 2001 fuhr ich mittags mit zwei New Yorker Architekten zu einem Symposium über den eisig-kahlen Julierpass in den Alpen.
Die Älteren von uns wissen genau, wie erschüttert sie im November 1963 auf John F. Kennedys Ermordung reagiert haben. Die Jubelnacht des Mauerfalls 1989, wer entsinnt sie nicht? Und schließlich die drei jüngeren Daten aus dem 21. Jahrhundert. Sie sind in unser aller Gedächtnis eingefroren. Für mich symbolisieren diese Zahlen die Kälte unserer Zeit.
Am 11. September 2001 fuhr ich mittags mit zwei New Yorker Architekten zu einem Symposium über den eisig-kahlen Julierpass in den Alpen, als der Sprecher im Schweizer Radio von Flugzeugen in den Türmen des World Trade Center berichtete. Auch die Nacht des russischen Angriffs auf die Ukraine bleibt. 24. Februar 2022. Wir fuhren die folgenden Wochen täglich zum Hauptbahnhof, um Geflüchteten zu helfen.
Und schließlich der 7. Oktober 2023. Der grauenvolle schwarze Samstag. Unerträglich, diesen Tag zu erinnern, unmöglich, es nicht zu tun. Alle drei Daten werden auch kommende Generationen beschäftigen, und für alle drei gilt ein weiser Gedanke von Michel de Montaigne: Nichts hält etwas intensiver in der Erinnerung fest, als der Wunsch, es zu vergessen.