Saul Friedländer

Hybris und Inkompetenz

Saul Friedländer

Hybris und Inkompetenz

In einem aktuellen Buch rechnet der Historiker mit der rechtsextremen Regierung von Benjamin Netanjahu ab

von Till Schmidt  30.10.2023 14:49 Uhr

»Ich brauchte einige Tage, um zu begreifen, dass die politische Koalition, die Benjamin Netanjahu gebildet hatte, ein Monster war – ein Ungeheuer mit Zähnen, das das liberale und demokratische Land, wie wir es kannten, zu verschlingen drohte. Es dauerte noch ein paar weitere Tage, bis mir klar wurde, dass jeder Israeli, in erster Linie diejenigen, die im Land lebten, aber auch diejenigen, die anderswo lebten und mit dem Land verbunden waren, so wie ich, ihr Möglichstes dazu beitragen mussten, das Monster zu bändigen.«

Mit diesen Sätzen beginnt Saul Friedländer Blick in den Abgrund, sein neues Buch, das er zunächst gar nicht schreiben wollte. Denn eigentlich hatte der bekannte Historiker nicht die Absicht, überhaupt noch etwas Neues zu verfassen. Doch die Ereignisse im geliebten Israel, wo Friedländer lange Zeit gelebt und gewirkt hatte, drängten den 90-Jährigen, ein politisches Tagebuch zu beginnen.

Friedländers Beobachtungen beginnen kurz nach dem Amtsantritt der Koalition im Januar 2023 und enden mit dem Beginn der parlamentarischen Sommerpause Ende Juli. Von seinem aktuellen Lebensmittelpunkt in Kalifornien aus kommentiert der Israeli die täglichen Nachrichten aus den Medien vor Ort. Immer wieder nimmt Friedländer auch Tiefenströmungen in der israelischen Gesellschaft in den Blick und fragt etwa nach der Bedeutung von religiösem Messianismus und politischen Erlösungsvorstellungen.

Das Buch bleibt vor allem in der Tagespolitik

Blick in den Abgrund bleibt vor allem aber in der Tagespolitik. Streckenweise liest sich das Buch wie eine knappe Aneinanderreihung von Agenturmeldungen. Angesichts der kraftvollen und geschichtsträchtigen Entwicklungen vor Ort erzeugt das eine besondere Wirkung. Denn immerzu stellt sich die Frage, ob und wann es der israelischen Demokratiebewegung endlich gelingt, den Staats- und Gesellschaftsumbau zu stoppen. Mit dem Buch lassen sich politische Machtdynamiken und Gelegenheitsfenster sowie nicht zuletzt die Wirkmacht von Bürgerprotesten studieren.

Zu einem »cri de ceur« wird das Buch besonders dann, wenn Friedländer – der sich selbst als Atheist versteht – thematisiert, wie sehr die ultraorthodoxen Koalitionspartner anstreben, die Privilegien ihrer Klientel sowie die Bedeutung der Religion in der Öffentlichkeit auszuweiten. Itamar Ben-Gvir, Bezalel Smotrich, Yariv Levin sowie Premierminister Netanjahu kommen selbstredend nicht gut weg; ebenso wenig der einflussreiche »Kohelet«-Thinktank. Friedländer schlägt hier einen scharfen Ton an.

Insgesamt ist das Buch die lesenswerte Chronologie eines existenziellen Moments in der Geschichte Israels, die zugleich bedrückt und auch etwas hoffnungsvoll stimmt.

Greifbar wird auf den knapp 230 Seiten, wie fragil die aktuelle Koalition angesichts ihrer politischen Heterogenität, knappen Parlamentsmehrheit und der Unberechenbarkeit ihrer führenden Politiker ist. Netanjahu wird nicht nur als »korrupter« und trickreicher Politiker beschrieben, sondern auch als politisch und moralisch schwach. Getrieben von seinen radikalen Koalitionspartnern sei er bereit, für sein eigenes Wohlergehen die Existenz des jüdisch-demokratischen Staates Israel aufs Spiel zu setzen.

Die Protestbewegung selbst kommt in Blick in den Abgrund allerdings kaum zu Wort. Gerade hierzulande dürfte aber nur wenig bekannt sein über ihre soziodemografische Zusammensetzung, politische Heterogenität sowie über ihre Taktiken und Strategien, die zum Teil nicht nur darauf abzielen, den illiberal-theokratischen Coup abzuwenden, sondern auch darauf, eine Verfassung auf den Weg zu bringen und die Besatzung als Thema auf die politische Agenda zu setzen.

Spannend wäre es zudem gewesen, mehr zu erfahren zur Bedeutung von Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara als Feindbild und mutige Gegnerin der Illiberalen sowie zu den Reaktionen der Medienlandschaft und des Wissenschaftsbetriebs, in dem Friedländer lange Zeit selbst tätig war. Insgesamt ist Blick in den Abgrund eine lesenswerte Chronologie eines existenziellen Moments in der Geschichte Israels, die zugleich bedrückt und auch etwas hoffnungsvoll stimmt.

Saul Friedländer: »Blick in den Abgrund. Ein israelisches Tagebuch«.
C. H. Beck, München 2023, 237 S., 24 €

Holzstörche zur Geburt in Niederösterreich. Noch immer werden neben den klassischen Namen viele biblische Namen den Kindern gegeben.

Statistik

Diese hebräischen Vornamen in Österreich sind am beliebtesten

Österreichische Eltern wählen gern Klassiker. Unter den Top Ten sind auch viele Namen biblischen Ursprungs

von Nicole Dreyfus  16.11.2025

Aufgegabelt

Noahs Eintopf

Rezepte und Leckeres

 16.11.2025

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  15.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025

Kino

Zwischen »Oceans Eleven« und Houdini-Inszenierung

»Die Unfassbaren 3« von Ruben Fleischer ist eine rasante wie präzise choreografierte filmische Zaubershow

von Chris Schinke  13.11.2025

Amsterdam

Chanukka-Konzert im Concertgebouw kann doch stattfinden

Der israelische Kantor Shai Abramson kann doch am 14. Dezember im Amsterdamer Konzerthaus auftreten - allerdings nur bei zusätzlich anberaumten Konzerten für geladene Gäste

 13.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 13.11.2025

Film

Dekadenz, Krieg und Wahnsinn

»Yes« von Nadav Lapid ist provokativ und einseitig, enthält aber auch eine tiefere Wahrheit über Israel nach dem 7. Oktober

von Sascha Westphal  13.11.2025

Kolumne

Hineni!

Unsere Autorin trennt sich von alten Dingen und bereitet sich auf den Winter vor

von Laura Cazés  13.11.2025