Kulturkolumne

Freiheit schmeckt nach mehr als Mazzeknödel

Mina de Espinaca ist eine Mazze-Spinat-Lasagne. Foto: Getty Images

Kulturkolumne

Freiheit schmeckt nach mehr als Mazzeknödel

Das Menü soll weniger aschkenasisch aussehen: Warum es bei meinem Sederabend auch Mina de Espinaca gibt

von Laura Cazés  11.04.2025 09:55 Uhr

Ich nehme es mir jedes Jahr vor, aber dieses Jahr, wenn ich einen zweiten Seder für meine Freunde hoste, werde ich es umsetzen: Mein Pessach-Menü wird weniger aschkenasisch aussehen. Ich denke an Pessach 2001, ich war elf Jahre alt und zum ersten Mal bei meiner sefardischen Familie in Argentinien.

Die erste Irritation: Die »kleine Familienversammlung« am ersten Sederabend bestand aus rund 25 Menschen – kleiner Kreis. Die zweite Irritation: Außer Mazza und Sederteller war mir keine der Speisen auf dem Tisch bekannt.

Ich fragte meine Mutter: »Mama, ist das koscher le Pessach?«, und sie sagte: »Ja, es gibt viele verschiedene koscher le Pessachs.«

Verschiedene koscher le Pessachs – also auch verschiedene Jüdischseins. Damals verstand ich zum ersten Mal: Ich bin in der Summe zwei verschiedene jüdische Traditionen. In mir existiert auch ein Jüdischsein ohne brutal dezimierte Familie, ohne Mazzeknödel. Welche Richtigkeit hat dann eigentlich das Etikett »typisch jüdisch«?

Jüdisches Essen ist nicht Bagel, Brisket oder Karpfen per se

Jüdisches Essen ist eine Verschmelzung von Knappheit, Sesshaftigkeit, Anschlussfähigkeit. Jüdisches Essen ist jüdische Erzählung und örtliche Möglichkeit. Es ist nicht Bagel, Brisket oder Karpfen per se – sondern das, was in jeweiligen Kontexten möglich war. Das, was unsere Geschichte und Erinnerung erzählt, woher wir kommen, was uns geblieben ist.

Was heute als »typisch jüdisch« gilt, entsteht auch aus Sichtbarkeit. Und die sozialen Kontexte, aus denen so etwas wie ein jüdischer Mainstream hervorgeht, sind heute vor allem die USA und Israel.

Aschkenasisch wurde »typisch jüdisch«, alles andere »typisch israelisch«. Die Dia­spora: matschig, warm, schwer. Israel: bunt, knackig, scharf.

Jüdisches Essen sind aber auch meine ehemaligen nichtjüdischen Mitbewohnerinnen, die mich zu Chanukka mit einem großen Teller in Öl eingelegter Antipasti überraschten, weil sie gegoogelt hatten, dass man zu Chanukka Fettiges isst.

Innerjüdische Aschkenormativität lässt oft wenig Raum für sefardische und misrachische Geschichten.

Und ich denke an Miriam Yosef und ihren Text »(Be)longing – Sabich Zengoula T’beet«, den sie 2023 beim Jewish Women* Empowerment Summit vortrug. Sie spricht vom »Diasporic Sorrow«, vom Verlust durch erzwungene Migration, davon, dass Essen oft an die Stelle von Sprache und Heimat tritt. Und vom Spannungsfeld zwischen innerjüdischer Aschkenormativität, die wenig Raum für sefardische und misrachische Geschichten lässt, und der antisemitischen Behauptung, deren Speisen seien kulturelle Aneignung.

Miriam Yosef schreibt: »Wie können wir uns etwas aneignen oder gar stehlen, das bereits uns gehört? Unsere Familien lebten in Bagdad, seit es Babylon war. Unsere Kulturen und Rezepte sind nicht gestohlen, sie wurden auf den Schultern vertriebener jüdischer Geflüchteter getragen.«

Essen ist ein Marker unserer Herkunftsgeschichten. Es geht nicht darum, was besser ist, sondern was diese Speisen über uns erzählen – in einer Zeit, in der andere oft bestimmen wollen, wer wir sind.

Dieses Jahr, wenn wir vor der historischen und aktuellen Kulisse kollektiver Unfreiheit Seder feiern, erinnern wir uns: Freiheit bedeutet zu wissen, wer wir sind. Deshalb gibt es dieses Jahr auf meinem Tisch neben der Mazzeknödelsuppe auch eine türkisch-sefardische Mina de Espinaca.

Film

Spannend, sinnlich, anspruchsvoll: »Der Medicus 2«

Wieder hat sich Regisseur Philipp Stölzl kräftig vom Bestseller-Autor Noah Gordon anregen lassen

von Peter Claus  19.12.2025

Musik

Louis-Lewandowski-Festival hat begonnen

Der Komponist Louis Lewandowski hat im 19. Jahrhundert die jüdische Synagogenmusik reformiert. Daran erinnert bis Sonntag auch dieses Jahr ein kleines Festival

 18.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Bettina Piper, Imanuel Marcus  18.12.2025

Ausstellung

Pigmente und Weltbilder

Mit »Schwarze Juden, Weiße Juden« stellt das Jüdische Museum Wien rassistische und antirassistische Stereotype gleichermaßen infrage

von Tobias Kühn  18.12.2025

Kulturkolumne

Vom Nova-Festival zum Bondi Beach

Warum ich keine Gewaltszenen auf Instagram teile, sondern Posts von israelischen Künstlern oder Illustratorinnen

von Laura Cazés  18.12.2025

Neuerscheinung

Mit Emre und Marie Chanukka feiern

Ein Pixi-Buch erzählt von einem jüdischen Jungen, der durch religiöse Feiertage Verständnis und Offenheit lernt

von Nicole Dreyfus  18.12.2025

Zahl der Woche

1437

Funfacts & Wissenswertes

 18.12.2025

Revision

Melanie Müller wehrt sich gegen Urteil zu Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was bisher bekannt ist

 18.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  18.12.2025