Geschichte

Elite ohne Moral

Im Roman Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell berichtete der fiktive Offizier Dr. iur. Maximilian Aue von seinen Gräueltaten. Nun liegt das geschichtswissenschaftliche Pendant in deutscher Sprache vor. In seinem neuen Buch Hitlers Elite untersucht Christian Ingrao die Biografien und Erfahrungen von Akademikern der SS, die am sogenannten Osteinsatz beteiligt waren.

Diesmal sind es nicht literarische Blutfantasien und Frustrationen, sondern Dokumente und Quellen, die zur Lösung des Rätsels beitragen sollen: Wie wurden hochintelligente Männer zu Massenmördern?

»Ich habe die Führungsstruktur des Reichssicherheitshauptamts studiert und die Namen mit Doktortitel herausgesucht«, erzählt Ingrao in seinem Pariser Büro. Der Wissenschaftler kommt auf eine Liste von 80 Männern, deren »Glaubenssystem« es zu rekonstruieren gilt. Denn Emotionen und kollektive Vorstellungen spielen für ihn eine wichtige Rolle. »Analysieren, was Menschen anderen antun, und versuchen, bis zu ihren mentalen Strukturen vorzudringen« – nur so kann man sich, so Ingrao, dem Phänomen der extremen Gewalt annähern.

Trauma In Hitlers Elite beschreibt der Autor, wie der Erste Weltkrieg zum Trauma einer ganzen Generation geworden ist. Obwohl die künftigen SS-Offiziere zu jung waren, um in den Schützengraben von Verdun zu kämpfen, und obwohl Trauer bis in ihre späten Ausbildungsjahre als Tabu galt, werden alle von der Niederlage geprägt.

Das Ende eines zum Verteidigungskrieg umgedeuteten Konflikts bedeutet für viele den Anfang einer »Welt von Feinden« – Franzosen, Kommunisten oder Juden. Die Zahl der Toten war außerdem zwischen 1914 und 1918 so groß gewesen, dass der Krieg nicht bloß als sinnloses Ereignis gelten durfte. Gerade auf dieses Bedürfnis nach Sinnstiftung und Linderung von Existenzängsten ist die nationalsozialistische Ideologie zugeschnitten: »Der Nationalsozialismus verleiht dem Ganzen eine Kohärenz, orientiert die Geschichte neu«, erklärt Ingrao.

Rassismus und Antisemitismus als kollektive Beruhigungspille? Ingrao bedient sich gleichermaßen der Begriffe der Psychoanalyse – von »Verarbeitung« ist oft die Rede –, der Kulturanthropologie und der Soziologie. Sorgfältig rekonstruiert er den Werdegang von Studenten, die im Austausch mit Gleichgesinnten ihr völkisch-nationalistisches Weltbild festigen. Wenig unterscheidet dabei den Akademiker von dem Fabrikarbeiter: »Der Arbeiter aus Hamburg oder aus dem Ruhrgebiet hasst die Person, die vor ihm steht. Der Intellektuelle hingegen spricht von internationaler Verschwörung«, sagt Ingrao und fügt erläuternd hinzu: »Diese Männer waren nicht für den Massenmord prädestiniert.«

Apokalyptisch Die untersuchten Intellektuellen arbeiten sich nach Erlangung der Promotion in den Führungsstrukturen des NS-Sicherheitsapparats empor und besetzen die höchsten Ämter der SS. Sie übernehmen keineswegs nur geistige Aufgaben, als die Einsatzgruppen 1941 nach Osten marschieren und die Vernichtung von 21 Millionen Menschen planen. Erich Ehrlinger, Albert Rapp, Walter Blume oder Otto Ohlendorf töten selbst – und hegen dabei keinerlei Zweifel.

»Sie empfinden Ekel«, erklärt der Historiker, aber sie deuten gleichzeitig ihre Taten als notwendige Kriegsführung gegen angebliche Barbaren. Ingraos großes Verdienst ist es, den Zusammenhang zwischen den Massenexekutionen und dem endzeitlichen Weltbild der SS-Intellektuellen deutlich zu machen. Im apokalyptischen Kampf gegen den Feind wird eine extreme Gewalt legitimiert, die erst 1945 ihr Fundament verliert.

Dem Autor gelingt es zwar nicht ganz, einen methodischen Widerspruch aufzulösen: Warum sollte man sich einer kleinen Gruppe von akademisch gebildeten Männern widmen, wenn diese die Ängste einer ganzen Generation vertreten? In Hitlers Elite beweist Ingrao dennoch, wie fruchtbar es ist, Emotionen und kollektive Repräsentationen zu untersuchen, um über die klassische Trennung zwischen Opportunismus und Ideologie, Befehlsnotstand und Überzeugung hinaus die Wurzeln der Gewalt zu ergründen.

Christian Ingrao: »Hitlers Elite. Die Wegbereiter des nationalsozialistischen Massenmords.« Aus dem Französischen von Enrico und Ursel Schäfer. Propyläen, Berlin 2012, 576 S., 24,99 €

Kulturstaatsministerium

Weimer sichert Zentralrat der Juden Solidarität zu

Neuer Minister nach Gespräch mit Josef Schuster: »Für mich ist es schmerzlich, ja unerträglich, zu sehen, wie der Antisemitismus in die Gesellschaft hineinkriecht«

 07.05.2025 Aktualisiert

Antisemitismus

Kanye Wests antisemitischer Song »WW3« ist Hit auf Spotify

Der Text ist voller Hitler-Verehrung, gleichzeitig behauptet der Musiker, er könne kein Antisemit sein, weil er schwarz sei

 07.05.2025

Großbritannien

Jonny-Greenwood-Konzerte wegen Drohungen von BDS abgesagt

Israelhasser wollen nicht, dass der Radiohead-Gitarrist mit einem Israeli arabische Liebeslieder vorträgt. Und sie setzen sich mit Drohungen durch

von Imanuel Marcus  07.05.2025

Berlin

Weimer: Antisemitismus in der Kultur als erstes großes Thema

Der neue Staatsminister für Kultur und Medien will an seinem ersten Tag ein Zeichen setzen - und empfängt gleich einen besonderen Gast

 07.05.2025

Kulturstaatsministerium

Wolfram Weimer entlässt »Claudia Roths Gehirn«

Der umstrittene BKM-Amtschef Andreas Görgen verliert unter Roths Nachfolger Wolfram Weimer seinen Posten

 07.05.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 8. Mai bis zum 16. Mai

 07.05.2025

Kulturstaatsministerium

Wolfram Weimer entlässt »Claudia Roths Gehirn«

Der umstrittene BKM-Amtschef Andreas Görgen verliert unter Roths Nachfolger Wolfram Weimer seinen Posten

 07.05.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen nun in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  06.05.2025

Literatur

Der Verschollene

Daniel Kehlmann entdeckt in einem wunderbaren Essay den Romancier Leo Perutz auf überraschende Weise neu

von Marko Martin  06.05.2025