Kino

»Ein wunderbar einfacher Luxus«

Hanns Zischler Foto: dpa

Herr Zischler, Ihr Buch »Kafka geht ins Kino« ist gerade erschienen, in dem Sie Franz Kafka über seine Leidenschaft fürs Kino aus Briefen, Berichten und Aufzeichnungen zu Wort kommen lassen. Zusätzlich sind Abbildungen von Plakaten und Szenen dabei – und eine DVD mit Filmen aus der Zeit, die er Anfang des 20. Jahrhunderts gesehen hat. Warum haben Sie sich noch einmal so intensiv mit Kafka beschäftigt, nachdem Sie bereits eine Fassung des Bandes vor 20 Jahren publiziert hatten?
Nun, ich habe neues Material gefunden, und es tauchten Dokumente auf, die ich noch nicht kannte. Und da musste ich das Buch einfach noch einmal überarbeiten. Vor 40 Jahren hatte ich damit begonnen, mich mit dem Kinoliebhaber Kafka zu beschäftigen.

Wie haben Sie von den neuen Inhalten erfahren? Sie hatten die Archive ja bereits früher besucht.
Man muss die Sammlungen nicht immer selbst aufsuchen, sondern sich mit bestimmten Personen verstehen, da diese oft Hinweise geben können, die für sie selbst gar nicht so bedeutend sind. Mit Spürsinn und Geduld kann man einiges bewegen und findet schließlich eine ganze Menge. Das ist ein bisschen wie Goldwaschen. So hat Stefan Drößler, der Leiter des Münchener Filmmuseums (wo eine umfangreiche DVD-Edition zum selben Thema erscheint), beim Blättern in alten Gaumont-Programmen einige Fotos zu »Lolotte« gefunden – leider erst nach Drucklegung der neuen Ausgabe meines Buches. Doch soll dieses Fundstück in die nächste Auflage, so es sie geben wird, aufgenommen werden.

Das hört sich nach intensiver Arbeit an.
Gelegentlich intensiv. Man darf über die Jahre den Faden nicht verlieren. Aber wenn man so wache Köpfe wie den Kafka-Herausgeber Hans-Gerd Koch zum Freund hat, bleibt man hellhörig. Dazu kommt, dass die Kinematheken weltweit in den letzten Jahrzehnten eine bewundernswerte Forschungs- und Restaurationsarbeit geleistet haben.

Hatten Sie dabei ein besonderes Erlebnis?
Für mich war die wichtigste Entdeckung die Bereitstellung dieser ganz frühen Filme. Der erste stammt aus dem Jahr 1908 von Jan Krizenecky, von dessen Existenz ich seit 30 Jahren wusste. Jetzt ist er restauriert. Kafka hatte diesen Film 1908 zusammen mit Max Brod gesehen.

Einer der letzten Filme, den Kafka angesehen hat, war 1920 »Rückkehr nach Zion«, der nun auf der DVD mit dabei ist.
Kafka schreibt lapidar »Palästinafilm«. Eine Kopie habe ich in den 80er-Jahren im Prager Filmarchiv entdeckt. Es ist eine Dokumentation über jüdisches Leben in Palästina. Er wurde von der zionistischen Zeitschrift »Selbstwehr« in Mitteleuropa gezeigt, um die hiesigen ausreisewilligen Juden als »chaluzim« zu gewinnen. Die antisemitischen Ausschreitungen in Prag nach 1919 lassen diese Bilder in einem anderen Licht erscheinen: Es ist eine greifbare Alternative.

Kafka äußerte sich ja sehr beeindruckt und wollte gerne ausreisen.
Kafkas Pläne für eine Übersiedlung waren ambivalent. Er war seit 1921 krank, was ihn nicht davon abhielt, eine solche Reise ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Am Ende war es dann, ausgelöst durch die Zuneigung zu seiner neuen Freundin Dora Dimant, Berlin, das zu »seinem« Palästina wurde.

1908 fängt Kafka an, über seine Kinobesuche zu schreiben. Was hat ihn daran so gefesselt?
Das Vergnügen, der pure kinetische und gleichzeitig passive Genuss. Man sitzt in einem dunklen Saal vor aufregenden Bildern, lässt sich entführen in eine andere Welt und wird dabei nicht beobachtet. Man kann es genießen, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Es ist ein wunderbarer und wunderbar einfacher Luxus, den das Kino anbietet. Wie ein Kind spricht Kafka immer wieder von seinem Wunsch, ein Bild »festzuhalten«.

Mit Max Brod, seinem späteren Nachlassverwalter, ist er nach Paris gereist. Wenn man die Berichte und Briefe aus dieser Zeit liest, könnte man denken, dass die beiden dort nicht geschlafen haben.
Es war eine Bildungsreise, sie waren aufgeregt und aufgekratzt, weil Paris in allem, wie Brod sagt, einfach das absolute Vorbild war: der Louvre, das Theater, Cabarets, Bordelle, Kinos, Bois de Boulogne, die Métro. Und alles wurde schriftlich festgehalten.

Was hat Sie an Kafkas Kino-Leidenschaft am meisten überrascht?
Im Gegensatz zu anderen Schriftstellern wollte er das Kino nicht verbessern. Viele dachten, dass das Kino eine niedere Kunst sei, die man veredeln müsste. Das hat Kafka nicht interessiert.

Hat er etwas aus den Filmen in seine literarischen Werke mit eingebaut?
Das ist eine verfängliche Frage. Das Kino ist eine Täuschung, und Kafkas Texte sind voller Täuschungen, gespensterhafter Fehlwahrnehmungen. Immer wieder beschreibt der Erzähler das Sehen selbst als ein Problem. Aber ich wüsste nicht ein Kinobild zu nennen, das er einfach in seine Texte überträgt. Diese Verwandlung ist ein diskreter und geheimnisvoller Prozess.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, über seine Kinobegeisterung ein Buch zu schreiben?
Es war verlockend, denn ich habe gemerkt, dass Kafka ein Autor ist, der einem sehr nahegeht. Ich hatte mich gefragt, warum er immer wieder das Kino erwähnt. Das ist in der Kafka-Forschung überhaupt kein Thema.

Arbeiten Sie weiter daran?
Ja. Wenn es neue Erkenntnisse – natürlich auch die anderer Forscher und Kinoliebhaber – gibt, dann würde ich sie bei einer der nächsten Auflagen mit einarbeiten, wie schon die erwähnte »Lolotte«.

Mit dem Schauspieler und Schriftsteller sprach Christine Schmitt.

Hanns Zischler: »Kafka geht ins Kino«. Galiani, Berlin 2017, 216 S., 39,90 €

Comic

Es lebe der Balagan!

Die israelische Illustratorin Einat Tsarfati legt ein aufgeräumtes Buch über Chaos vor

von Tobias Prüwer  14.12.2024

Düsseldorf

»Seine Prosa ist durchdrungen vom tiefen Verständnis und empathischer Nähe«

Der Schriftsteller David Grossman wurde am Samstag mit dem Heine-Preis ausgezeichnet

 14.12.2024

Alexander Estis

»Ich bin Pessimist – aber das wird bestimmt bald besser«

Der Schriftsteller über die Folgen der Kriege in der Ukraine und Nahost, Resilienz und Schreiben als Protest

von Ayala Goldmann  12.12.2024

Kino

Film-Drama um Freud und den Lieben Gott

»Freud - Jenseits des Glaubens« ist ein kammerspielartiges Dialogdrama über eine Begegnung zwischen Sigmund Freud und dem Schriftsteller C.S. Lewis kurz vor dem Tod des berühmten Psychoanalytikers

von Christian Horn  12.12.2024

Kultur

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 12. Dezember bis zum 18. Dezember

 12.12.2024

London

Hart, härter, Aaron Taylor-Johnson

Ein Marvel-Schurke zu sein, ist körperlich extrem anstrengend. Dies räumt der jüdische Darsteller nach dem »Kraven The Hunter«-Dreh ein

 11.12.2024

PEN Berlin

»Gebot der geistigen und moralischen Hygiene«

Aus Protest gegen Nahost-Resolution: Susan Neiman, Per Leo, Deborah Feldman und andere verlassen den Schriftstellerverein

 11.12.2024

Medien

»Stern«-Reporter Heidemann und die Hitler-Tagebücher

Es war einer der größten Medienskandale: 1983 präsentierte der »Stern« vermeintliche Tagebücher von Adolf Hitler. Kurz darauf stellten die Bände sich als Fälschung heraus. Ihr »Entdecker« ist nun gestorben

von Ann-Kristin Wenzel  10.12.2024

Imanuels Interpreten (2)

Milcho Leviev, der Bossa Nova und die Kommunisten

Der Pianist: »Ich wusste, dass ich Bulgarien verdammt zügig verlassen musste«

von Imanuel Marcus  10.12.2024