Ich habe die Videos, die die Hamas am 7. Oktober verbreitet hat, nicht gesehen. Freunde, die sie gesehen haben, brauchten danach psychologische Hilfe. Und darüber hinaus weiß der Mensch wohl selbst, was seine Seele ertragen kann – und was nicht.
Erst zwei Jahre später, an dem Tag, an dem der Krieg endet, wage ich es, eines dieser Videos anzuschauen. Doch um meine Seele zu schützen, fange ich mit dem guten Ende an. Der als Geisel gehaltene Avinatan Or wird wieder mit seiner Partnerin vereint, von der er an jenem schrecklichen Morgen getrennt wurde – Noa Argamani. Sie umarmen sich, fallen aufs Bett. Umarmen sich wieder. Er küsst sie auf die Wange. Unterdrückt ein Schluchzen. Als er sich zu ihr beugt, um sie auf den Mund zu küssen, endet das Video.
Nachdem ich ihre liebevolle Umarmung dreimal angesehen habe, fasse ich Mut und schaue mir das Video ihrer Entführung an. Sie sitzt auf einem Motorrad. Zwischen zwei Hamas-Terroristen. Neben ihnen wird Avinatan von anderen Terroristen vorwärtsgetrieben, gestoßen. Sie schreit nach ihm, aber er kann nichts tun, um ihr zu helfen. Auch in den zwei Jahren nach diesem Moment konnte er de facto nichts tun, um ihr zu helfen. Sie war es, die vor ihm freikam, die für seine Freilassung kämpfte, die auf jeder Bühne sprach, überallhin reiste und keine Sekunde aufgab, bis er zurückkam.
Ich weine, nachdem ich diese beiden Videos gesehen habe. Doch es ist ein anderes Weinen als all die Male zuvor, ein Weinen der Erleichterung. Sie sind wieder beisammen. Der Krieg ist vorbei.
Schreiben hilft, nicht ganz die Kontrolle zu verlieren
Ich begann, dieses Tagebuch zu schreiben, da Schreiben das ist, was ich tue, wenn es mir schlecht geht. Im Finden der richtigen Worte liegt etwas, das mir – wenigstens während des Schreibens – ein Gefühl von Kontrolle zurückgibt.
Vor allem aber suchte ich – inmitten des Kriegschaos, inmitten all des Verlusts und der Verzweiflung – nach Momenten der Menschlichkeit, die mir Hoffnung geben könnten. Ich lauerte ihnen auf: eine jüdische Frau, die einer arabischen Frau nach einem Raketenalarm eine Wasserflasche reicht; ein überraschendes Liebesgeständnis im Schutzraum; ein junger Mann, der unbedingt ein Buch an die Familie jenes Soldaten zurückgeben will, von dem er es ausgeliehen hatte, bevor dieser im Krieg fiel.
Ich suchte nach Zeugnissen dafür, dass Menschen einander auch Gutes tun können. Und nicht nur Böses. Dass sie sich mit Mitgefühl begegnen können und einander nicht nur töten, bombardieren und ins Elend stürzen.
Ich suchte nach Zeugnissen dafür, dass Menschen einander auch Gutes tun können.
Je länger der Krieg andauerte, desto schwieriger wurde das. Das Leid der Bewohner Gazas wuchs und wuchs. Und mir fiel es immer schwerer und schwerer, die israelische Regierung – und den Mann an ihrer Spitze – zu verstehen. (Bis heute begreife ich nicht, warum wir Donald Trump brauchten, um diesen verfluchten Krieg zu beenden. Gäbe es in Israel eine verantwortungsvolle und mutige Führung, hätten wir das längst selbst getan, aus eigener Kraft heraus.)
Und trotzdem suchte ich weiter. Und wurde fündig. Die zehntausend Menschen, die bei einer Demonstration den Geiselfamilien zuriefen: »Wir stehen euch bei, ihr seid nicht allein«, waren ein Trost. Auch die Israelis, die Geld sammelten und in Deir al-Balah im Gazastreifen ein Waisenhaus gründeten, waren mir ein Licht am Ende des Tunnels.
Laufen schützt davor, nicht ganz in Verzweiflung zu versinken
Parallel zum Schreiben dieses Tagebuchs begann ich zu laufen. Das Laufen schützte mich davor, in Verzweiflung zu versinken. Jeden Morgen der letzten zwei Jahre joggte ich durch die Straßen. Im Regen wie in der Kälte. Ich schwor mir, zu laufen, solange der Krieg andauert. Ich träumte von einem finalen Bild, in dem ich – wie Forrest Gump – auf einen Schlag stehenbleibe, sobald mich die Nachricht vom Ende des Krieges erreicht. Tatsächlich kam die Nachricht vom Kriegsende aber mitten in der Nacht, als ich schlief, und am Morgen danach stand ich auf und … lief los. Einerseits, weil ich dieser natürlichen Droge längst verfallen bin, und andererseits, weil die Verzweiflung – schließlich ist das hier immer noch der Nahe Osten – weiterhin vor meiner Tür auf mich lauert.
Am Morgen jenes schrecklichen achten Oktobers wachte ich vom Ton einer eingehenden Nachricht auf meinem Handy auf. Es war Asaf. Ich glaube, Yiftach, der Sohn von Shira, ist gefallen, schrieb er. Kannst du überprüfen, ob es wirklich er ist? Ich prüfte es. Was wir befürchtet hatten, war eingetreten. Yiftach Ya›avetz, Shiras Sohn, den ich seit seiner Geburt kenne, war am ersten Tag des Krieges im Kampf gefallen.
Am selben Abend hatte ich eine Veranstaltung in Mailand. Auf der Bühne konnte ich kaum sprechen. Mir fehlten die Worte. Ich bat den Moderator, eine Schweigeminute zum Gedenken an Yiftach zu halten. Er stimmte zu. Hunderte Italiener und Italienerinnen hielten inne, zum Gedenken an ein schönes, kluges, sensibles Kind, das sie nicht kannten und das sie nie kennenlernen würden.
Am Tag, nachdem der Krieg sein Ende gefunden hatte, und an dem Trump in der Knesset sprach, fand auch eine Zeremonie zum zweiten Todestag von Yiftach statt. Nach der Zeremonie ging ich zu Shira hinüber. Um ihr eine Umarmung zu geben. Wir redeten ein wenig über Nebensächlichkeiten. Dann fragte ich sie, ob die Zeit das ihrige tut.
»Die Zeit?«, antwortete sie. »Zum Teufel mit der Zeit.«
Schweigen breitete sich aus. Dann erzählte sie, dass die Sehnsucht nach Yiftach nur schlimmer wird. Und mit der Sehnsucht wird ihr auch immer bewusster, dass er niemals zurückkehren wird. Zum Glück gibt es seine Freunde, sagte sie seufzend, die zu Besuch kommen, und es gibt auch die Worte, die Yiftach hinterlassen hat. Hier, sie zeigte auf ihr Handy – schau, was er mir in einer seiner Nachrichten geschrieben hat: »Jeder braucht wohl irgendeinen Wasserturm, auf den er zugehen kann. Etwas Großes und Hohes am Horizont, von dem man weiß: Dort gehe ich hin, dorthin muss ich gelangen. Und auch wenn du vom Weg abkommst, hilflos und verloren bist, heb den Kopf und sieh den Turm. Und fang einfach an, auf ihn zuzugehen. Denn was ist das Leben, wenn nicht ein langer Weg voller Verirrungen, auf dem man den Weg immer wieder neu finden muss.«
Alle Hochzeiten, auf denen ich in den letzten zwei Jahren gewesen bin, waren von Sorge und Traurigkeit geprägt.
Nächste Woche werde ich auf der Hochzeit guter Freunde einen Segensspruch auf das Brautpaar sprechen. Alle Hochzeiten, auf denen ich in den letzten zwei Jahren gewesen bin, waren von Sorge und Traurigkeit geprägt. Bei einer Hochzeit rannten wir Gäste mittendrin in den Schutzraum des Saals, wegen eines Raketenalarms. Bei einer anderen wurde die Hochzeitsreise des Paares abgesagt, weil der Bräutigam während der Feier die Nachricht erhielt, dass er am nächsten Tag zum Reservedienst nach Gaza eingezogen wird. Auf jeder Hochzeit, auf der ich war, wurden die Geiseln erwähnt, und der Satz »Unsere Freude bleibt getrübt, bis sie zurückkehren« war keine bloße Floskel. Denn in den vergangenen zwei Jahren war in Israel keine Freude wirklich ungetrübt.
Das Paar, das nächste Woche heiratet, ist nicht mehr jung. Um zu diesem Moment zu gelangen, haben die beiden viel durchgemacht, sie sind von früheren Beziehungen gezeichnet, wurden enttäuscht und haben fast aufgegeben. Und doch fassten sie den Mut, wieder zu lieben; den Mut, neu zu beginnen.
Auch die Israelis verdienen einen Neuanfang. Und auch die Palästinenser, denke ich, während ich den Segen für meine Freunde schreibe.
Ein Neuanfang ist kein Traum, er ist möglich. Und wir haben die Macht, ihn geschehen zu lassen.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Lucia Engelbrecht.