Literaturwissenschaft

Der geläuterte Antisemit

Von zur Mühlens Buch ist der Versuch einer Rehabilitierung. Foto: Wallstein

Literaturwissenschaft

Der geläuterte Antisemit

Bernt Ture von zur Mühlen rehabilitiert den Schriftsteller Gustav Freytag zu dessen 200. Geburtstag

von Welf Grombacher  04.07.2016 17:54 Uhr

Lange Jahre wohnte der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki in der Frankfurter Gustav-Freytag-Straße. Ihm selbst war das immer ein bisschen unangenehm. Ausgerechnet jener Gustav Freytag, der mit stereotypen Figuren wie dem Veitel Itzig aus Soll und Haben oder dem Schmock aus Die Journalisten, die in einer Reihe mit Veit Harlans Jud Süß stehen, den Judenhass beförderte.

Im 19. Jahrhundert war Freytag in Deutschland der meistgelesene Schriftsteller. Heute kennen ihn fast nur noch Germanisten, was nicht zuletzt an seinem schlechten Ruf liegen mag. Als der Regisseur Rainer Werner Fassbinder 1977 für den WDR eine mehrteilige Fernsehverfilmung von Soll und Haben plante, gab es heftige Debatten mit Überlebenden des Holocaust, und das Projekt scheiterte.

»Aber Gustav Freytag war kein Antisemit«, schreibt der 1939 in Danzig geborene Bernt Ture von zur Mühlen in seiner rechtzeitig zum 200. Geburtstag Freytags erschienenen Biografie. Er habe lediglich die antisemitischen Klischees seiner Zeit bedient. In reiferen Jahren habe er eine Kehrtwende vollzogen: »Als eine der wenigen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hat er Stellung gegen jede Art von Antisemitismus bezogen.« Seine Antwort auf Richard Wagners Schmähschrift Das Judenthum in der Musik sei 1869 ein lautstarker Appell gegen Antisemitismus und für ein gleichberechtigtes Zusammenleben mit den Juden in Deutschland gewesen.

rEHABILITIERUNG Von zur Mühlens Buch ist der Versuch einer Rehabilitierung, der den im literaturwissenschaftlichen Betrieb zur Unperson gewordenen Gustav Freytag vor dem Vergessen bewahren will.

Am 13. Juli 1816 im schlesischen Kreuzburg als Sohn eines Arztes geboren, studierte Freytag Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, promovierte bei dem berühmten Mediävisten Karl Lachmann und arbeitete kurz an Wilhelm Grimms Deutschem Wörterbuch mit, bevor er erste Theaterstücke wie Die Brautfahrt (1840) oder Die Valentine (1847) schrieb.

Sein Lustspiel Die Journalisten war zu seinen Lebzeiten die meistgespielte Komödie auf deutschen Bühnen. Sein Roman Soll und Haben erschien in seinem Todesjahr in der 43. Auflage. Als Patriot und Herausgeber der Zeitschrift »Die Grenzboten« kämpfte er für ein vereinigtes Deutschland unter Führung Preußens. Zwischen 1848 und 1870 veröffentlichte er 800 Artikel.

Selbstdisziplin »Für Gustav Freytag war ein Leben in Vaterlandsliebe und Pflichterfüllung, Arbeit und Unterordnung, Selbstdisziplin und Sparsamkeit das höchste moralische Gebot eines jeden Bürgers«, schreibt von zur Mühlen, der mit eben derselben Gewissenhaftigkeit an seine Biografie gegangen ist. Manchmal wünscht man sich ein bisschen weniger Akribie und dafür die eine oder andere Anekdote. Das aber nur am Rande.

Dass Freytag im 1855 erschienenen Roman Soll und Haben die Juden mit antisemitischen Stereotypen ausstattete, hätten »die meisten Kritiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht für problematisierenswert gehalten«, schreibt er. Die 1893 erschienene Flugschrift Ueber den Antisemitismus. Eine Pfingstbetrachtung, in der er jede Art von Antisemitismus verurteilte, sei ein klares Indiz für die Läuterung des Schriftstellers, der in dritter Ehe mit der 30 Jahre jüngeren Anna Strakosch eine Jüdin heiratete.

Das meiste, was Bernt Ture von zur Mühlen schreibt, lässt sich nachvollziehen. Ob allerdings einzig der Antisemitismusvorwurf schuld daran ist, dass der Autor in Vergessenheit geraten ist, mag man anzweifeln. Nicht von ungefähr höhnte schon der Kollege Franz Grillparzer über den Vielschreiber Gustav Freytag in einem Vierzeiler über Soll und Haben: »Daß die Poesie Arbeit, / Ist leider eine Wahrheit. / Doch daß die Arbeit Poesie, / Glaub ich nun und nie.«

Bernt Ture von zur Mühlen: »Gustav Freytag«. Biografie. Wallstein, Göttingen 2016, 272 S., 24,90 €

Meinung

Gratulation!

Warum die Ehrung der ARD-Israelkorrespondentin Sophie von der Tann mit dem renommierten Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis nicht nur grundfalsch, sondern auch aberwitzig ist

von Lorenz Beckhardt  01.12.2025 Aktualisiert

Kommentar

Schiedsgerichte sind nur ein erster Schritt

Am 1. Dezember startet die Schiedsgerichtsbarkeit NS-Raubkunst. Doch es braucht eine gesetzliche Regelung auch für Werke in Privatbesitz, meint unser Gastautor

von Rüdiger Mahlo  01.12.2025

Rache

»Trigger-Thema« für Juden

Ein Filmseminar der Jüdischen Akademie untersuchte das Thema Vergeltung als kulturelle Inszenierung

von Raquel Erdtmann  01.12.2025

Wuppertal

Schmidt-Rottluff-Gemälde bleibt in Von der Heydt-Museum

»Zwei Frauen (Frauen im Grünen)« von Karl Schmidt-Rottluff kann im Von der Heydt Museum in Wuppertal bleiben. Nach Rückgabe an die Erbin erwarb die Stadt das Bild von ihr. Vorausgegangen waren intensive Recherchen zur Herkunft

 01.12.2025

Dorset

»Shakespeare In Love« - Dramatiker Tom Stoppard gestorben

Der jüdische Oscar-Preisträger war ein Meister der intellektuellen Komödie. Er wurde 88 Jahre alt

von Patricia Bartos  01.12.2025

Fernsehen

Abschied von »Alfons«

Orange Trainingsjacke, Püschelmikro und Deutsch mit französischem Akzent: Der Kabarettist Alfons hat am 16. Dezember seine letzte Sendung beim Saarländischen Rundfunk

 30.11.2025 Aktualisiert

Gerechtigkeit

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz 

Jüdische Verbände dringen auf Rückgabegesetz Jahrzehnte nach Ende des NS-Regimes hoffen Erben der Opfer immer noch auf Rückgabe von damals geraubten Kunstwerken. Zum 1. Dezember starten Schiedsgerichte. Aber ein angekündigter Schritt fehlt noch

von Verena Schmitt-Roschmann  30.11.2025

Berlin

Späte Gerechtigkeit? Neue Schiedsgerichte zur NS-Raubkunst

Jahrzehnte nach Ende der Nazi-Zeit kämpfen Erben jüdischer Opfer immer noch um die Rückgabe geraubter Kunstwerke. Ab dem 1. Dezember soll es leichter werden, die Streitfälle zu klären. Funktioniert das?

von Cordula Dieckmann, Dorothea Hülsmeier, Verena Schmitt-Roschmann  29.11.2025

Interview

»Es ist sehr viel Zeit verloren gegangen«

Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, zieht eine Bilanz seiner Arbeit an der Spitze der »Beratenden Kommission NS-Raubgut«, die jetzt abgewickelt und durch Schiedsgerichte ersetzt wird

von Michael Thaidigsmann  29.11.2025