Liraz

Das Trillern der Utopie

Liraz live beim Roskilde Festival in Dänemark (2023) Foto: picture alliance / Gonzales Photo/Christian Hjorth

Es wirkte wie eine utopische, fast surreale Szenerie und fröhlich wie eine Purim-Party: Umjubelt von Iranern, die Israelflaggen halten, wirft sich eine israelische Sängerin auf der Bühne in dramatische Posen, räkelt sich unter einem Schleier mit Strass-Steinen und singt, angeheizt von orientalischem Elektropop, Lieder über Frauenbefreiung – auf Farsi und ihrerseits von einer iranischen Fahne umschlungen.

Spätestens, wenn Liraz Charki die Verhüllung fallen lässt, wie in Trance mit dem Tamburin tanzt und mit der Parole »Frauen, Leben, Freiheit« den Slogan der seit 2023 anhaltenden Revolte gegen die misogyne Unterdrückung im Iran anstimmt, gibt es im Publikum kein Halten mehr. Vielfaches Trillern – auf persischen Hochzeiten und Geburtstagen das definitive Zeichen, dass die Party begonnen hat – schwirrt durch den Raum.

Das Berliner Konzert musste in eine kleinere Location verlegt werden

Vergangener Sommer in Berlin. Die Konzertbesucher: ein interessanter Mix aus wohlgesinnten Weltmusik-Aficionados, jungen, oftmals queeren Iranern und jüdisch-persischen Freundespaaren – kaum nötig zu erwähnen, dass diese Auftritte im Land der Mullahs nie und nimmer stattfinden könnten. Doch auch in Europa, wo Liraz außerhalb Israels hauptsächlich spielt, werden die Korridore enger. Wer Brücken baut, gerät unter Beschuss, immer wieder gibt es Anfeindungen von Israel-Boykotteuren, und das Berliner Konzert von Juni 2024 musste in eine kleinere Location verlegt werden, weil nach dem 7. Oktober 2023 Karten zurückgegeben wurden, wie die 46-jährige Sängerin merklich angefasst berichtet.

Ab Anfang dieser Woche tritt Liraz in Israel im Rahmen einer Konzert­reihe mit dem andalusischen Orchester Aschdod auf. Doch ihre europäischen Fans haben derzeit keine Chance, sie live zu hören. Seit Beginn des Gaza-Kriegs wurden 80 Prozent ihrer Konzerte in Europa und den USA abgesagt, wie das israelische Online-Medium »ynet« am Montag schrieb. Auf Auftritte in »besonders antisemitischen« Ländern wie Belgien habe Liraz aus eigener Initiative verzichtet, hieß es dort.

Die Kämpfe scheinen sich zu wiederholen: Im Iran litten schon die Großeltern und Eltern der Sängerin unter der Judenfeindschaft, was sie – wie den Großteil der dortigen, früher stattlichen jüdischen Gemeinde – schließlich zur Auswanderung nach Israel drängte. Es war bereits vor der islamischen Revolution, als Lirazʼ Mutter in der Schule einen Skandal verursachte, weil sie nicht aus dem Koran zu lesen vermochte und so die verborgen gehaltene jüdische Identität abrupt offenbart wurde.

Im Iran verursachte die Mutter einen Skandal, weil sie in der Schule nicht aus dem Koran las.

Doch so drängend der Wunsch nach der Freiheit in der neuen Heimat war, so sehr verbunden blieb die Familie der Kultur und Mentalität der alten. Zu Hause wurde Persisch geredet, gekocht und gesungen, draußen versuchte man nach Kräften, sich der aschkenasisch-westlichen Dominanz anzugleichen. Das orientalische Judentum galt als rückständig, war verpönt und diversen Diskriminierungen ausgesetzt – Liraz erinnert sich, dass sie ihre Eltern bat, zu Hause Hebräisch zu sprechen, wenn sie Freunde zu Besuch hatte, doch der besondere Geruch der Fleischbällchen auf ihren Pausenbroten verriet sie in der Schule dann doch.

Aus dem Iran mitgebracht hatte die Familie auch die strengen Vorstellungen der »guten Tochter«, die ihre Rolle als braves Mädchen, zurückhaltende Frau und beflissene Gattin auszufüllen weiß, eine Zwangsjacke, geschnürt weniger durch explizite Verbote als durch vielfältige Ansprüche, Hoffnungen und Ansprachen der Verwandtschaft, die bald in eine selbst verhängte Begrenzung übergehen.

Starke Frauenfiguren aus der Familie im Iran

Doch es sind auch die starken Frauenfiguren aus ihrer Familie, die ihr als Inspiration und Ansporn dienten: Von ihrer Großmutter, die im ländlichen Iran mit elf Jahren verheiratet wurde, erzählt die Sängerin voller Verehrung. Stolz wie eine Diva und gesegnet mit einer göttlichen Stimme sei sie durchs Leben gegangen, doch wenn sie auf einer Feier, Hochzeit oder Party einmal das Mikrofon ergriff, habe sich sofort der Großvater aufgebaut, um sie von der Bühne zu schicken. Anders ihre Tante Rita, die als Sängerin große, auch internationale Bekanntheit erlangte und mit ihren Erfolgen die Bühnenambitionen der Nichte befeuerte – wenn auch zunächst um den Preis des Bruchs mit der Herkunftswelt.

Liraz nahm Alben mit hebräischem Pop und Videos in Kuschelrock-Ästhetik auf, machte Shampoo-Werbung und wird ein bekanntes Fernsehgesicht, das sich bald auf dem Weg nach Hollywood befindet und dort in Filmen an der Seite von Naomi Watts, Sean Penn und Philip Seymour Hoffman zu sehen ist.

Doch was als Sprung auf die Bühne der Welt geplant war, endet in einer Art Nische, die exotisch zu nennen wohl grob untertrieben wäre. Denn in Los Angeles befinden sich nicht nur die großen Filmstudios, hier lebt mit einer halben Million Menschen auch die größte persische Exilgemeinschaft weltweit. In »Tehrangeles« entdeckte Liraz in zahllosen iranischen Plattenläden ihre Liebe zu den selbstbewussten, divenhaften Sängerinnen der psychedelischen 70er-Jahre wie Googoosh oder Pooran, die nach der Revolution für lange Zeit der Stimme beraubt und ins Exil getrieben wurden.

Dennoch: Zum ersten Mal »iranisch und frei« habe sie sich beim Hören dieser Musik gefühlt, deren pathosfreudige Poesie aus Stolz und Drama mit einer Pfauenfeder geschrieben scheint. Mit Texten, die die Würde der Frau beschwören, und Elektrobeats, die die Brücke ins 21. Jahrhundert schlagen, macht Liraz daraus einen groovigen Feminismus mit Rosenwasser, singt von nun an nur noch in Farsi und performt zunächst auf kleineren Festivals für Liebhaber.

Frühere Hörer warfen ihre Platten auf den Müll und pinnten eine Palästina-Fahne darauf.

Dass ihre persönliche Revolte ein paar Jahre später zum Soundtrack einer der wichtigsten Aufstände der vergangenen zehn Jahre werden sollte, mag geradezu einer List der revolutionären Vernunft entsprungen sein: Ein DJ bringt die Tracks von einem Aufenthalt im Westen in den Iran, auf klandestinen Partys werden sie wieder und wieder gespielt, die Sängerin, die selbst noch nie im Land ihrer Eltern war und der als Israelin der Zugang streng verboten ist, hat dort plötzlich eine Fan­gemeinde.

Geheime Aufnahmesession mit iranischen Musikerinnen in Istanbul

So geht sie den nächsten Schritt: Nachdem das zweite Album Zan von 2020 bereits durch das Internet zusammen mit iranischen Musikern produziert wurde, die in Teheran Soundfiles eingespielt haben, arrangiert sie 2022 in Istanbul eine geheime Aufnahmesession, zu der dieses Mal Musiker aus dem Iran anreisen, um gemeinsam mit ihrer israelischen Band das Album Roya einzuspielen.

Die persischen Mitstreiter bleiben anonym, sind im Video nicht erkennbar und machen sich im Anschluss wieder still und leise auf den Rückweg. Ein Auftritt, der die Sängerin ob des Mutes der Musikerinnen tief bewegt und ob ihrer Erscheinung ebenso verblüffte: Mit blondierten, kurzen Haaren und selten ohne Bier in der Hand schienen sie so gar nicht dem Bild der unterdrückten iranischen Frau zu entsprechen.

Dass im Mittleren Osten viel unter dem Schleier verborgen ist, das jedoch mit aller Kraft nach draußen drängt, zeigte sich spätestens mit den landesweiten iranischen Protesten im Anschluss an die Ermordung von Jina Mahsa Amini, in denen die Lieder von Liraz zu Hymnen der Selbstermächtigung wurden. Und die Solidarität reicht auch wieder zurück: Auf den jüngsten Drohnenangriff des Iran gegen Israel sei sie zunächst durch zig ängstliche Nachfragen von iranischen Fans hingewiesen worden, so die Sängerin.

Dennoch haben der 7. Oktober 2023 und die Folgen viel verändert. Frühere Hörer haben Platten von ihr auf den Müll geworfen und eine palästinensische Flagge darauf gepinnt, manche schreiben ihr, wie schwer es ihnen gerade fiele, ihrer Musik offen zu begegnen. Liraz versucht dennoch, den Kontakt aufrechtzuerhalten, eine traurige Grundierung ist ihren Äußerungen gleichwohl anzumerken.

Nach den Massakern und im Krieg fühle sie sich auf Konzerten mit – selbst in bester Absicht geschwungenen – Fahnen jeglicher Art nicht mehr so wohl, berichtet sie, und auch die Texte auf der neuen EP Enerjy erzählen nun etwas anderes: Liraz, deren Ehemann bei dem Hamas-Überfall auf die Kibbuzim mehrere Familienangehörige verlor, singt über Resilienz (»Enerjy«) und von Gerüchten und Schmähungen, die sich zu einem Krieg radikalisieren (»Haarf«).

Die Frage, ob sie erwarte, eines Tages im Iran, im heute verbotenen, gelobten und besungenen Land, auftreten zu können, beantwortet sie gleichwohl mit einem »Definitiv«, das so entschlossen ist, dass man darin ohne jeden Zweifel wieder das Trillern der Utopie hören kann.

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