Essay

Das Einfache ist schwer zu machen

Eine langjährige Freundin erzählt mir vor einigen Jahren von ihrem letzten Einstellungsgespräch. Der Chef ihrer erhofften künftigen Arbeitsstelle legt die Aufgaben dar, die sie, sollte es zu einem Vertrag kommen, zu übernehmen hätte, und fragt, ob sie sich die Erfüllung dieser vorstellen könne. Sie antwortet: »Gestatten Sie, dass ich Ihnen einen jüdischen Witz erzähle?« Diese Frage war nicht völlig fehl am Platz, denn bei der künftigen Arbeitsstelle handelt es sich um eine zentrale jüdische Einrichtung.

Der Chef gestattet, und sie erzählt: »Moi­sche wird gefragt, ob er Geige spielen könne. Er antwortet: ›Ich weiß es nicht, ich habe es noch nicht probiert.‹« Meine Freundin wurde eingestellt und erfüllte mit der Zeit nicht nur die gestellten Aufgaben, sondern viele andere, weit darüber hinaus gehende.

Wie ich lernte, Rad zu fahren

Diese Geschichte erinnert mich daran, wie ich lernte, Rad zu fahren. Ich war damals zwölf oder 13 Jahre alt und hatte mir den lang gehegten Traum, ein Fahrrad zu fahren, gar zu besitzen, bislang nicht erfüllen können. Das war in den ersten Jahren der DDR bei ihrem allgemeinen Mangel nicht überraschend. Umso weniger für den Zögling eines Kinderheimes, allerdings im schönen Grünheide, im Süden Berlins.

Eines Tages wurde gefragt, wer Radfahren könne. Ich meldete mich (schließlich hatte ich es noch nicht probiert). Mir wurde anvertraut, mit dem Fahrrad des Kinderheimes aus der etwa einen Kilometer entfernten Bäckerei die Brote für das Heim zu holen. Am Lenkrad war ein großer Korb befestigt.

Glücklicherweise beobachtete niemand, wie ich die ersten Meter mit starken Schwankungen nach links und rechts, jedoch ohne zu stürzen, bewältigte. So kam ich schließlich mit einigen Zwischenstopps bis zur Bäckerei. Die Rückkehr war eine andere Geschichte. Mit dem Dutzend kiloschwerer Brotlaibe im Korb das Gleichgewicht zu halten, stellte eine unerwartete Herausforderung dar. Nach wenigen Metern entglitt der Lenker meinen Händen, ich fiel mit dem Rad zur Seite. Die Brote nutzten die Gelegenheit, dem Korb zu entfliehen.

Sturz, Aufsammeln, Weiterfahrt

Ich stand auf, suchte eine Möglichkeit, das Rad wieder aufzustellen und die Brote wieder einzufangen. Beim nächsten Versuch kam ich etwas weiter, doch wiederum musste ich die Brote aufsammeln. Mit der Zeit wurden die Abstände zwischen Sturz, Aufsammeln und Weiterfahrt größer, und ich näherte mich dem Kinderheim. Als es in Sichtweite war, reinigte ich, so gut es ging, die Brote von den Sandspuren und fuhr durch das Ziel, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan. Zu meiner Überraschung fragte niemand, warum ich so lange gebraucht hatte – zu Fuß hätte es kaum länger gedauert.

Jahre später hatte ich ein eigenes Rad, genoss die Bewegungsfreiheit, die Ausflüge mit Freunden, die Entdeckung der Seen in Berlins Umgebung. Räder begleiteten mein Leben, lange bevor ein Auto meinen Aktionsradius erweiterte. Mit den Jahren kamen weitere Räder hinzu. Jedes hat seine Geschichte. An einem hänge ich besonders, es hat einen eigenen, außergewöhnlichen Weg hinter sich.

Mit den Jahren kamen weitere Räder dazu. An einem hänge ich ganz besonders.

Eine Zeit lang besuchte ich ein Fitnessstudio in Köpenick. Eines Tages, zu Beginn der 90er-Jahre, fuhr ich mit einem in Washington auf der Straße von mexikanischen Einwanderern gekauften Damenrennrad vor, in dem Glauben, an Exotik sei mein Zweirad nicht zu übertreffen. Dieter, der Leiter des Fitnessstudios, bewies mir das Gegenteil. Er holte aus seinem Keller ein Rennrad hervor, wie es kein zweites gibt oder je geben wird. Es hatte nur noch an der rechten Seite ein Pedal, am Rahmen verriet eine kleine Plakette, wer der frühere Besitzer war: Guy Lapébie, ein in Frankreich berühmter Radrennfahrer, Medaillensieger bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin, mehrfacher Sieger der Tour de France.

Nicht der einzige scherzhafte Eingriff in das Leben der Franzosen

1940 wird Frankreich von Nazi-Deutschland besetzt – in diesem Jahr findet keine Tour de France statt. Es ist nicht der einzige scherzhafte Eingriff in das Leben der Franzosen. Unter den Besatzern befindet sich L., ein passionierter Amateurradrennfahrer aus Berlin, bis 1933 Mitglied in einem Arbeitersportverein. Er chauffiert einen Offizier, Chemiker im zivilen Leben, der eine besondere Militäreinheit kommandiert: Sie überprüft beschlagnahmte, das heißt geraubte edle Wein-, Cognac- und Champagnersorten, ob sie nicht von böswilligen Franzosen vergiftet wurden, bevor sie von deutschen Herrenmenschen genossen werden.

Bei einer Inspektionstour in Bordeaux kommt L. an einem Fahrradgeschäft vorbei, im Schaufenster ist ein Rad ausgestellt, mit dem der Ladenbesitzer, Guy Lapébie, Medaillen gewann. Dieser kann dem Uniformierten, der sich als ein Verehrer des Champions zu erkennen gibt, schwer verweigern, dieses als Werbung gedachte, unverkäufliche Rad zu kaufen.

Die für die deutschen Besatzer zunächst gemütliche Besatzung verwandelt sich in einen ernsten Krieg. Ein amerikanischer Tiefflieger greift den Wagen von L. und seinem Offizier an, L. wird am linken Oberschenkel getroffen, im Lazarett ist sein Bein nicht mehr zu retten, es wird amputiert. L. kehrt nach Berlin zurück, mit einem Bein weniger, aber der Rennradtrophäe. Er bastelt sich ein Holzbein und baut das Rad um, mit dem rechten Bein kann er es bewegen. Nach dem Ende des Krieges radelt er in die Dörfer der Umgebung, auf der Suche nach Kartoffeln. Er findet Arbeit in einem Ostberliner Großbetrieb, wird gar für seine hervorragende Arbeit ausgezeichnet.

Sein Enkel erbt das Rad

Nach seinem Tod erbt sein Enkel das Rad, stellt es in einem Keller ab, der nach einem Rohrbruch überschwemmt wird. So landet es bei Dieter und schließlich bei mir. Meine Absicht ist, es nach Bordeaux zurückzubringen, es dem Verein, der jedes Jahr Lapébie-Gedenkrennen veranstaltet, zu überreichen. Bisher ist es mir nicht gelungen, diesen Plan zu verwirklichen.

Als Zehnjähriger kam ich 1950 aus Frankreich nach Deutschland, mit meinem jüngeren Bruder und meiner Mutter, eine nach 17-jähriger Abwesenheit in ihre Heimatstadt Berlin zurückkehrende Emigrantin. Fünf Jahre später war mir die deutsche Sprache längst zum selbstverständlichen Mittel der Kommunikation geworden, die französische begann jedoch, mir zunehmend fremd zu werden. Da bekam ich die Gelegenheit, für gleichaltrige französische Kinder in der DDR-Pionierrepublik am Werbellinsee zu dolmetschen. Ich ergriff sie – obwohl ich es noch nicht probiert hatte.

Die richtige Mischung finden, das angemessene Maß, darin besteht die Kunst des Lebens.

In den ersten Tagen suchte ich manchmal nach vergessenen Wörtern, auch sprachen die Jugendlichen nicht genau die Sprache, die ich als Zehnjähriger gesprochen hatte. Wie bei meinen ersten Versuchen, Rad zu fahren, ging es mitunter schwankend und schlingernd zu, doch stürzte ich nicht, und nach drei Wochen hatte ich das Gefühl, meine erste Sprache wiedergefunden zu haben. Es war der Beginn einer langen, im Grunde bis heute währenden Dolmetscher-»Karriere« (im Nebenberuf), zu der ich nicht ausgebildet worden war.

Das Leben als Gratwanderung

Ich will jedoch nicht das »Probieren geht über Studieren«, »Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben«, »Wer nicht wagt, nicht gewinnt« und ähnliche Weisheiten verallgemeinern. So möchte ich zum Beispiel nicht von mir operiert werden noch als Passagier in einem Flugzeug sitzen, das ich als Pilot führe. Rückblickend sehe ich das Leben als Gratwanderung zwischen einerseits Hochstapelei, Wagemut, Risikobereitschaft, Unternehmungslust, Neugier, je nach dem Betrachtungswinkel, und andererseits Zurückhaltung, Bescheidenheit, Kleinmut, Verzagtheit.

Der Mangel an Ersteren führt oft zu Umwegen, die sich letzten Endes als Irrwege herausstellen können. Zu viel von Letzteren kann das Scheitern begleiten, das dennoch manchmal zum Erfolg führt. Dann braucht es Mut, sich nicht entmutigen zu lassen. Kreativität heißt Neues wagen, unbetretenen Pfaden folgen, ohne den Realitätssinn und das Bewusstsein für Verantwortung aufzugeben. Die richtige Mischung finden, das angemessene Maß, darin besteht die Kunst. Auch die des Lebens.

Die alten Griechen haben – wie so oft – dafür den passenden Begriff entwickelt. Sie nennen es »Kairos«, das Richtige zum richtigen Zeitpunkt tun. In ihrer Mythologie stellen sie sich den Kairos als geflügelten Jüngling mit einem Haarschopf auf dem Kopf vor. Wenn er an uns vorbeifliegt, haben wir drei Möglichkeiten. Erstens: Wir sehen ihn nicht. Zweitens: Wir sehen ihn und reagieren nicht. Drittens: Wir ergreifen den Moment, da er an uns vorbeifliegt, und fassen ihn beim Schopf. Im Deutschen wurde daraus »die Gelegenheit beim Schopfe packen«. Das gehört, um mit Brecht zu sprechen, zum Einfachen, das schwer zu machen ist.

Ich erschrecke: Ich gerate ins Belehren und Moralisieren, obwohl ich mit Sartre den Geist der Ernsthaftigkeit verabscheue. Vor ihm schützen Witze – zum Beispiel folgender: »Jeden Abend bittet Moische in seinem Abendgebet, Gott möge ihm einen Hauptgewinn in der Lotterie bescheren. Nach einem Monat öffnet sich der Himmel, Gott schaut auf Moische hinunter und sagt ihm: ›Moische, gib mir eine Chance, kauf ein Los.‹«

Vincent von Wroblewsky schrieb vor gut 50 Jahren eine Doktorarbeit über Jean-Paul Sartre, war 30 Jahre lang Präsident der Sartre Gesellschaft in Deutschland, übersetzte Bücher, zuletzt für den Merlin Verlag drei Romane von Boualem Sansal. Im selben Verlag erschien 2023 sein autofiktiver Text »Vermutlich Deutscher«.

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