Briefwechsel

Authentisches Spiegelbild

Haben über ein Jahr lang per Brief kommuniziert: die Journalisten Özlem Topçu und Richard C. Schneider Foto: picture alliance / ZB, Uwe Steinert

Richard C. Schneider und Özlem Topçu sind gute Freunde. Sie haben einiges gemeinsam: Beide sind passionierte Journalisten und Autoren. Beide sind in der alten Bundesrepublik geboren und aufgewachsen: er 1957 in München, sie 1977 in Flensburg. Beide sind Deutsche, aber auch, wie sie sich selbst nennen, »Wanderer zwischen den Welten« – Menschen, die in sich und in ihrer Identität mehrere Kulturen tragen.

Richard C. Schneider ist Sohn ungarisch-jüdischer Schoa-Überlebender, Özlem Topçu wurde in eine Einwandererfamilie mit türkischen Wurzeln geboren. Wenn sie miteinander ins Gespräch kommen, spielen Fragen von Identität, Jüdischsein, Muslimischsein, Ankommen, Teilhabe, Ausgrenzung, Ablehnung, Dazugehören, Antisemitismus und Rassismus immer eine Rolle.

AUSTAUSCH Über ein Jahr lang haben Schneider und Topçu ihre Gedanken inmitten der Corona-Pandemie und des Aufkommens der »Querdenker«-Bewegung in Deutschland intensiv ausgetauscht – und zwar auf traditionellem Weg: per geschriebenem Brief.

Von November 2020 bis November 2021 standen die beiden Freunde miteinander in einem regen Briefwechsel. Sie schrieben sich über ihr Leben, über Persönliches und Politisches und über all das, was sie in dieser Zeit bewegt, in der die Welt aus den Fugen zu sein scheint.

Bei Richard Chaim Schneider spürt man eine Resignation über Antisemitismus-Debatten.

Aus dem angeregten schriftlichen Austausch der beiden Journalisten ist nun ein Buch entstanden: Wie hättet ihr uns denn gerne? Ein Briefwechsel zur deutschen Realität. Ohne redaktionelles Eingreifen und vorgegebene Überschriften geben die Briefe einerseits Einblicke in die gedankliche Innenwelt der Autoren und ihrer Freundschaft, andererseits sind sie authentisches Spiegelbild der aktuellen politisch-gesellschaftlichen Debatten über Migration und Einwanderung in Deutschland.

Absolut persönlich, mal flapsig, mal nachdenklich und ernst – war es doch beim Schreiben der Briefe keineswegs die Absicht der Autoren, ihre Briefe später der Öffentlichkeit zugänglich zu machen – reflektieren hier zwei Intellektuelle und Deutsche mit Migrationsgeschichte den gesellschaftspolitischen Status quo.

»Unser Eindruck war zuletzt, dass sich die Diskurse um Zugehörigkeiten und Identitäten verkrampft haben, dass regelrecht Lager entstanden sind«, sagen Schneider und Topçu. Über diese beunruhigende Entwicklung in unruhigen Zeiten wollten sie sich austauschen – und zeigen: »So blicken ein Nachkomme von Holocaust-Überlebenden und Immigranten und eine Nachkommin türkischer Einwanderer auf Debatten in Deutschland – Debatten, die oft über sie geführt werden.«

JUDENHASS Bei Richard C. Schneider spürt man eine gewisse Resignation über ebendiese Debatten mit ihren doch immer ähnlichen Positionen. Insbesondere, wenn es um das in Deutschland stets präsente Thema Judenhass geht. »Gerade beim Thema Antisemitismus, das mich ja ein Leben lang in Deutschland begleitet, merke ich, wie alles, was man geschrieben, gefilmt, gesagt, getan hat, einfach so verpufft«, schreibt Schneider an seine Brieffreundin am 8. Dezember 2020. »Dass heute dieselben Schlachten geschlagen werden müssen wie vor 20 oder 40 Jahren. Nichts hat sich geändert. Gar nichts«, so Schneider.

Die Corona-Pandemie hat es abermals verdeutlicht. Sie hat den Antisemitismus, der in der Gesellschaft stets als Grundrauschen präsent war, wieder stärker an die Oberfläche gespült – dieses Mal im Gewand der Verschwörungstheorien.

Auch Özlem Topçu ist von dem Diskurs um Integration und Fremdsein genervt.

Richard C. Schneider schreibt, dass er sich angesichts dieser Realität häufig die Frage stelle, was das Schreiben heute überhaupt noch bringe – speziell das (An)schreiben gegen den Judenhass und der ihm innewohnenden Irrationalität. Ein Kampf gegen Windmühlen also? Womöglich. In jedem Fall ein Kampf, der wütend und frustriert macht. Lassen kann es der langjährige Leiter des ARD-Studios in Tel Aviv dennoch nicht: »Denn wenn diese Sehnsucht, die ›Welt zu verbessern‹, nicht mehr gegeben ist, dann kann man doch aufhören, nein?«

FREUNDSCHAFT Aufhören, über gesellschaftliche Missstände, Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung zu schreiben, wird Richard C. Schneider nicht. Auch Özlem Topçu, die wie er von den immer gleichen Debatten um Fremdsein und Zugehörigkeit genervt und wütend ist, wird ihre Feder so schnell nicht niederlegen. Das ist gut so.

Denn ein friedlicherer Ort sind Europa und die Welt seit dem Briefwechsel von Schneider und Topçu nicht geworden – ganz im Gegenteil, schaut man beispielsweise auf den russischen Überfall auf die Ukraine und die damit einhergehende Zeitenwende.

Umso schöner ist es, dass die Lektüre dieses Briefbuches den Leser in eine hoffnungsvolle Grundstimmung versetzen kann, gerade auch in diesen Zeiten. Denn immerhin sind es doch zwei gute Freunde, die hier schreiben. Und Freundschaft kann bekanntlich Berge versetzen und Grenzen überwinden.

Özlem Topçu und Richard C. Schneider: »Wie hättet ihr uns denn gerne? Ein Briefwechsel zur deutschen Realität«. Droemer, München 2022, 272 S., 18 €

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