Ein Mausklick. Das Gebäude ist niedriger als die umliegenden und sticht dennoch heraus. Es baut sich auf in Signalfarben, aus abwechselnd geschichteten roten und sandfarbenen Blöcken. Auf dem gedrungenen Bau sitzt eine mächtige Kuppel, an deren Spitze eine Stele mit goldenem Magen David in die Höhe ragt. Schlanke Fenster umrahmen die blau-gelbe Eingangspforte. Ein Klick weiter – auch im Inneren des Gebäudes eine wahre Farbenpracht: weiß-rot gemusterte Säulen, dunkelbraun schimmernde Sitzbänke, eine farbenfrohe Deckenbemalung, von schlichten Bronzeleuchtern in Szene gesetzt. 400 Frauen und 500 Männer finden Platz in der Polnischen Schul in der Wiener Leopoldsgasse. Ein Klick – und das Bild löst sich auf.
Erbaut wurde die Polnische Schul in den Jahren 1892/1893 von dem Architekten Wilhelm Stiassny. Im Novemberpogrom 1938 wurde sie, wie fast alle Wiener Synagogen mit Ausnahme des Stadttempels, von Anhängern der Nationalsozialisten in Brand gesteckt und zerstört. An ihrer Stelle steht heute ein einfaches Wohnhaus.
3D-Visualisierungen Nun kann man die Polnische Schul und andere ehemalige Synagogen bei einem virtuellen Spaziergang im Jüdischen Museum Wien wiederentdecken. Memory nennt sich die Ausstellung, die noch bis Mitte November läuft und deren herausragende Exponate computergestützte 3D-Visualisierungen sind. Gebäude, die seit Jahrzehnten aus dem Stadtbild verschwunden sind, lassen sich so in ihrer Räumlichkeit erfassen. »Computergestützte Darstellungsformen können die zerstörten Wiener Synagogen nicht wieder herstellen. Sie können jedoch helfen, sich die ausgelöschten Räume in ihren Dimensionen und ihrer einstigen Wirkung vorzustellen«, schreiben Bob Martens, Professor an der Technischen Universität Wien, und der Architekt Herbert Peter. Die beiden arbeiten seit Jahren daran, verschwundene Synagogen anhand ihrer Bau- und Demolierungspläne zu rekonstruieren.
In einem anderen Raum aufgestellte Kartonmodelle geben einen Eindruck von der Höhe der Bauten. Im Vergleich zur Wiener Karlskirche waren alle Synagogen um etliches niedriger. Die Architekten hatten neben den Gesetzen der Statik auch kulturelle Normen einzuhalten und sollten christliche Sakralbauten nicht übertreffen.
Die Ausstellung zeichnet zudem die Entstehungsgeschichte von Synagogen nach. Seit mehr als 800 Jahren sind jüdische Bethäuser in Wien urkundlich belegt. Die Gemeinden waren allerdings immer wieder Vertreibungen ausgesetzt. Im 15. Jahrhundert wurde die Wiener Gemeinde gewaltsam aufgelöst. Die Fundamente der damaligen Synagoge, deren Steine zum Neubau der Universität verwendet wurden, kann man im Jüdischen Museum einen Stock tiefer besichtigen.
Erst Anfang des 17. Jahrhunderts durften sich Juden wieder ansiedeln, diesmal im Ghetto im Unteren Werd im zweiten Bezirk. Ebenjener Bezirk wurde später, als sich Juden frei ansiedeln konnten, zum Zentrum jüdischen Lebens in Wien und erlebt heute wieder eine kleine Blüte.
Tempel Ein Bauboom jüdischer Tempel setzte nicht nur in Wien, sondern in der gesamten Donaumonarchie erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, als das Staatsgrundgesetz allen Bürgern Bewegungsfreiheit erlaubte. Bis zum Novemberpogrom 1938 wurden mehr als 20 große Synagogen und 80 Bethäuser in der Stadt gebaut.
Viele Architekten, wie etwa der in Bratislava gebürtige Wilhelm Stiassny, waren auch in den Kronländern aktiv. Die Ausstellung porträtiert auch diese Architekten und bildet die von ihnen geplanten prächtigen Gebäude auf hölzernen Memorykarten ab.
Einen weiteren Eindruck vom damaligen pulsierenden jüdischen Leben geben Glückwunschkarten mit Abbildungen der Bethäuser, die man aus allen Ecken des Habsburgerreichs verschickte: Die damals frisch errichteten Synagogen waren der ganze Stolz der jeweiligen Gemeindemitglieder.
Die Ausstellung ist noch bis zum 17. November im Jüdischen Museum Wien, Judenplatz 8, zu sehen. Geöffnet sonntags bis donnerstags von 10 bis 18 Uhr, freitags bis 17 Uhr
www.jmw.at