GRIECHENLAND

Venus über Distomo

Die Schädel liegen in gleich großen, weißen Fächern. Bei einigen fehlt das Schädeldach, bei anderen Teile des Unterkiefers, manchmal sind es nur noch Fragmente. An allen lässt sich das Ausmaß der Gewalttätigkeiten erahnen. 218 Totenköpfe sind es insgesamt. Eingerahmt von sechs einfachen Fenstern. Bei einem Fenster schließt der Griff nicht richtig und steht störrisch zur Seite ab. Aus einem Gesteck verströmt eine einzelne Lilie ihren markanten Duft. Das Mausoleum der Gedenkstätte Distomo ist geöffnet. Distomo liegt zweieinhalb Autostunden nordwestlich von Athen entfernt, am Fuß des Parnass-Gebirges.

Am 10. Juni 1944 verübte eine deutsche SS-Einheit das Massaker an den Dorfbewohnern von Distomo – eines der grausamsten Massaker an der Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs. Nach einem Angriff von Partisanen im nahe gelegenen Stiri, rückte das SS-Panzer-Grenadier Regiment 7 gegen 17.30 Uhr in Distomo ein. Im Zuge der sogenannten Sühnemaßnahme ging die SS mit äußerster Brutalität vor.

Argyris Sfountouris und seine drei Schwestern haben das Massaker überlebt. Er war dreieinhalb Jahre alt, als seine Eltern und 30 seiner Familienangehörigen niedergemetzelt wurden. »Zuerst war ich maßlos traurig, unmittelbar danach maßlos wütend. Schweigsam wütend«, sagt Sfountouris heute. »Sobald ich angefangen habe, moralisch zu denken, kamen die Fragen: Wie können Menschen das machen? Was sind das für Menschen? Wie ist das möglich?« Während seiner Erzählung schaut er konzentriert geradeaus, formuliert präzise und klar. »Das sind die Fragen, die als Motor dienen. Mehr noch als die Frage, warum ich überlebt habe. Und sie führen dazu, dass ich mich für eine andere, eine bessere Welt einsetzen möchte.«

rechtsstreit Widerstand prägt sein Leben. Als Waise kam er ins Kinderdorf Pestalozzi in die Schweiz, wo er später studierte. In den 60er- und 70er-Jahren engagierte er sich von dort aus gegen die griechische Militärdiktatur. Dann folgten unendliche gerichtliche Auseinandersetzungen mit der Bundesrepublik Deutschland. 1995 haben Argyris und seine drei Schwestern Klage beim Landgericht Bonn eingereicht: für Entschädigungen und Schadensersatz. »Wir wollten die Ereignisse vor Gericht zur Sprache bringen und den Raum für eine politische Auseinandersetzung öffnen.«

In den nachfolgenden Instanzen wurde die Klage abgewiesen, zurückgewiesen oder nicht angenommen. Mit erstaunlichen Begründungen: »Vergeltungsaktionen« wie gegen das Dorf Distomo seien nicht als NS-Tat zu definieren, sondern als Maßnahmen der Kriegsführung. Deswegen gehe es hier nicht um Entschädigungen von NS-Unrecht, sondern um den »Fragekomplex Reparationen«. Die Reparationsfrage aber habe sich durch Zeitablauf erledigt. Die Bundesrepublik hat jedoch nie Reparationszahlungen an Griechenland geleistet und stets abgelehnt, dies zu tun. Der Bundesgerichtshof zog noch 2003 die Rechtsauffassung zur Zeit der NS-Diktatur heran und nicht die im Grundgesetz verankerten Menschenrechte. Und kam so auf einen Haftungsausschluss des Deutschen Reiches sowie der Bundesrepublik Deutschland. Am Ende des zivilrechtlichen Verfahrens in der Bundesrepublik schlussfolgerte das Bundesverfassungsgericht 2006, »Individualansprüche« kämen nicht in Betracht. Seit Juni 2006 ist die Beschwerde der Sfountouris-Geschwister beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig.

entschädigung Der Areopag, das höchste Gericht Griechenlands, hingegen verpflichtete die Bundesrepublik bereits im Mai 2000, eine Summe von insgesamt 28 Millionen Euro Entschädigung an die Kläger aus Distomo zu zahlen. Aufgrund diplomatischer Sensibilitäten hat die griechische Regierung bis heute die Zwangsvollstreckung deutschen Eigentums in Griechenland verhindert. 2008 erlaubte der Kassationsgerichtshof, der oberste Gerichtshof in Italien, den Klagenden aus Distomo, ihre Rechtsansprüche gegenüber deutschem Staatseigentum in Italien durchzusetzen. Denn italienische Gerichte erkennen die Staatenimmunität bei Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen nicht an. Dagegen beharrt die Bundesrepublik darauf, vor italienischen Gerichten Immunität zu genießen. Und erhob noch 2008 Klage gegen Italien vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Denn Sinn der Staatenimmunität sei es, das friedliche Zusammenleben der Staaten nicht zu gefährden. Sfountouris’ Rechtsanwalt Martin Klingner verliert dazu deutliche Worte: »In der Begründung ihrer Klage in Den Haag unterstellt die Bundesregierung den Überlebenden, ihre Klagen würden den Frieden gefährden. Aber tatsächlich bricht Deutschland mit der Missachtung der griechischen und italienischen Urteile vor aller Öffentlichkeit internationales Recht und erhebt sich selbst zum Friedensretter. Damit werden die Tatsachen auf den Kopf gestellt.«

In Italien erwirkten die Distomo-Kläger währenddessen einen Gerichtsbeschluss. Durch diesen sind 51 Millionen Euro aus dem Auslandsvermögen der Deutschen Bahn AG beschlagnahmt worden. Ende April 2010 erließ die Berlusconi-Regierung eine
Notverordnung, der das Parlament mittlerweile zugestimmt hat, und stoppte das Vollstreckungsverfahren gegen Deutschland, solange Den Haag nicht entschieden hat. Sfountouris’ andere Anwältin, Gabriele Heinecke, wird jetzt noch deutlicher: »Sollte Deutschland in Den Haag gewinnen, wären die zivilen Opfer von Kriegs- und Völkerrechtsverbrechen möglicherweise dauerhaft rechtlos gestellt. Dies könnte geradezu als Freibrief für kriegerische Aggressionen verstanden werden.«

kriegslogik Vor der Gedenkstätte in Distomo stützt sich Argyris Sfountouris mit beiden Händen auf seinen Gehstock. Ihm ist es wichtig, dass Opfer von Kriegen in Zukunft entschädigt werden. »Kriege werden zum Zweck der Bereicherung geführt. Wenn Opfer entschädigt würden, lohnen sich Kriege nicht mehr.« Auf dem Weg ins Tal hält er plötzlich inne und zeigt in den Nachthimmel: »Da ist Venus. Wir sollten uns nicht nur dem Blick in die juristischen Akten und Deutschlands unethischer Kontinuität zum Nationalsozialismus widmen«, sagt er und lächelt dabei schelmisch.

Der studierte Physiker und Astrophysiker weiß, wovon er spricht. Bewusst habe er sich damals für ein Studium der Naturwissenschaften entschieden. »Dort findet man noch gültige Wahrheiten. Das habe ich damals gebraucht«, gibt er preis und legt dabei den Kopf mit der schwarzen Schiebermütze zur Seite. »Außerdem muss sich die deutsche Politik mit den Opfern als Menschen beschäftigen. Wir sind kein Abstraktum. Wenn eine Delegation des Bundestages nach Distomo käme, hätte das vielleicht Folgen«, sagt er und geht bedächtig den Hügel hinunter.

Anstatt darauf zu warten, steht der 69-Jährige am 11. Juni in der Mittagshitze vor der Deutschen Botschaft in Athen zwischen zwei Transparenten. Auf ihnen steht: »Keine Staatenimmunität für Nazi-Kriegsverbrechen« und »Sofortige Entschädigung aller griechischen Opfer des Nazismus«. Erwartungen hat Argyris Sfountouris nicht mehr viele. »Deutschlands Schlussstrichmentalität lässt meine Hoffnungen sehr gering ausfallen. Aber ich lasse mich gerne eines Besseren belehren«, sagt er und reckt dabei das Kinn gen Himmel. »Ich kann jedenfalls nicht damit leben, nichts zu tun.«

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