Katalonien

Spurensuche am Mittelmeer

Der Band »Jewish Barcelona« ist Fremdenführer und Geschichtsbuch in einem

von Pieter Lamberts  24.04.2017 18:21 Uhr

Im ehemaligen jüdischen Viertel der Altstadt von Barcelona Foto: Marco Limberg

Der Band »Jewish Barcelona« ist Fremdenführer und Geschichtsbuch in einem

von Pieter Lamberts  24.04.2017 18:21 Uhr

Was haben Woody Allen, Nachmanides und Albert Einstein gemeinsam? Sie alle haben in der katalanischen Hauptstadt Barcelona ihre Spuren hinterlassen. Das und viel mehr steht in dem neuen Fremdenführer Jewish Barcelona. Es gibt ihn leider nicht auf Deutsch.

Das jüdische Barcelona kennt seine Höhen und Tiefen, wie man dem von dem Historiker Josep Alert akribisch verfassten Reisebegleiter entnehmen kann. Der Tiefpunkt: der »Avalot del Call«, der »Judenviertelaufruhr« 1391, als die florierende jüdische Gemeinde, eine der wichtigsten im Mittelmeerraum, fast völlig ausgerottet wurde – schon 100 Jahre vor dem berüchtigten Vertreibungsedikt von 1492, in die Geschichte eingegangen als Alhambra-Erlass, gab es in Barcelona kein jüdisches Gemeindeleben mehr.

Der Höhepunkt: Barcelona heute. Die rund 5000 jüdischen Einwohner Barcelonas haben die Wahl unter vier Gemeinden: von orthodox bis Reform, von progressiv bis ultraorthodox; man kann koscher einkaufen und essen gehen, zum Beispiel im berühmten Boqueria-Markt an der Rambla; es gibt ein jüdisches Filmfestival, das in Europa richtungsweisend ist. Kurz: Auch am westlichen Mittelmeer boomt jüdisches Leben.

Römerzeit In Jewish Barcelona – es gibt den Fremdenführer auch auf Katalanisch (La Barcelona jueva) – schildert Josep Alert in sieben Kapiteln die Anfänge einer jüdischen Gemeinschaft in der Römerzeit, ihre Blüte vom 10. bis zum 12. Jahrhundert, den Weg in die Katastrophe von 1391, mit anschließender erzwungener Konversion, Repression und Diaspora, den Neuanfang Ende des 19. Jahrhunderts, die Folgen von Bürgerkrieg und Holocaust und schließlich den Weg aus der Angst in die Normalität.

Wenn man 2000 Jahre Geschichte erzählt, könnte man schnell in einer trockenen Aufzählung von Namen und Fakten versanden. Alert aber ist es gelungen, die große und kleine Geschichte auf für den Leser angenehme Weise zu verflechten. So lässt er die berühmt-berüchtigte Disputation von Barcelona (1263) Revue passieren, in der sich Nachmanides und der zum Christentum konvertierte Pablo Christiani ein Wortduell über die vermeintliche intellektuelle Überlegenheit des Christentums geliefert haben.

Der Autor erzählt aber auch über den Ursprung des katalanischen Ausdrucks für das wöchentliche Saubermachen, »fer dissabte«, wörtlich: »Samstag machen«. Die meist unter Zwang zum Christentum übergetretenen Juden mussten immer wieder erneut unter Beweis stellen, dass sie doch richtige Christen waren. Anstatt zu ruhen, haben sie also am Samstag geputzt.

Danone Ein anderes Beispiel der »kleinen« Geschichtsschreibung ist die Namensgebung des multinationalen Konzerns Danone. Isaac Carasso, ein Sefarde aus Saloniki, hatte sich beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs mit Frau und Kindern in Barcelona niedergelassen. Er war über Bulgarien, wo er den Joghurt kennengelernt hatte, nach Spanien gereist. In der katalanischen Hauptstadt hat er dann 1919 den ersten industriellen Joghurt der Welt hergestellt. Und da zwei Wochen vorher sein Sohn Daniel geboren worden war – im Kreise der Familie wurde der Kleine Danon genannt –, vermarktete der Vater seinen Joghurt als »Danone«.

Von solchen Geschichten ist Jewish Barcelona bis zum Rande voll. Man liest über die Inquisition – ihr letztes Opfer, Félix Duarte de Andrade, kam 1726 auf den Scheiterhaufen, weil er angeblich ein Kryptojude war – und über Isak Andic, den Gründer des Kleiderkonzerns Mango, der mit vier Hippieblusen angefangen hat. Alert erzählt von der israelischen Präsenz auf dem Mobile World Congress in Barcelona, dem größten seiner Art auf der Welt, und von den Fluchtwegen über die Pyrenäen, die alle in Barcelona endeten – wahrscheinlich an die 150.000 Menschen, unter ihnen viele Juden aus dem besetzten Europa, haben so ihr Leben retten können.

Mit seinen vielen Farbfotos, Stadtplänen, auf denen steinerne Zeugen jüdischen Lebens verzeichnet sind, einer umfassenden Aufzählung – samt Internetlinks – der jüdischen Gruppen, Vereine und Gemeinden in Barcelona, nebst praktischer Information bezüglich jüdisch geprägter Restaurants und Geschäfte in der katalanischen Hauptstadt, ist Jewish Barcelona ein Muss für jeden, der in Barcelona auf Spurensuche gehen möchte.

Josep Alert: »Jewish Barcelona«. Cossetània Edicions, Barcelona 2017, 180 S., 17,90 €

Amsterdam

Spätherbst in Mokum

Einen Monat nach der Hetzjagd auf israelische Fußballfans diskutieren die Niederlande über Antisemitismus. In der jüdischen Gemeinschaft bleibt eine fundamentale Unsicherheit

von Tobias Müller  12.12.2024

Schweiz

Fünf Übergriffe auf Juden an einem Wochenende in Zürich

Die jüdische Gemeinschaft der Schweiz ist zunehmend verunsichert - der Antisemitismus hat ein Allzeithoch erreicht

 11.12.2024

Osteuropa

Der Zauber von Lublin

Isaac Bashevis Singer machte die polnische Stadt im Roman weltberühmt – jetzt entdeckt sie ihr jüdisches Erbe und bezieht es in die Vorbereitungen auf das Europäische Kulturhauptstadtjahr 2029 mit ein

von Dorothee Baer-Bogenschütz  10.12.2024

Sofia

Nach Nichtwahl ausgeschlossen

Bulgarien steckt in einer politischen Dauerkrise - und mittendrin steht ein jüdischer Politiker, den seine Partei jetzt ausschloss

von Michael Thaidigsmann  09.12.2024

Vatikan

Papst Franziskus betet an Krippe mit Palästinensertuch

Die Krippe wurde von der PLO organisiert

 09.12.2024

Österreich

Jüdisch? Arabisch? Beides!

Mit »Yalla« widmet sich das Jüdische Museum Hohenems einer komplexen Beziehungsgeschichte

von Nicole Dreyfus  07.12.2024

Australien

Anschlag auf Synagoge »völlig vorhersebare Entwicklung«

Die jüdische Gemeinde in Australien steht unter Schock. Auf die Synagoge in Melbourne wurde ein Anschlag verübt. Die Ermittlungen laufen

 06.12.2024

Streit um FPÖ-Immunität

Jüdische Studenten zeigen Parlamentspräsidenten an

Walter Rosenkranz habe Ansuchen der österreichischen Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Immunität von drei FPÖ-Parteifreunden verschleppt.

von Stefan Schocher  05.12.2024

USA

Trump will Jared Isaacman zum NASA-Chef ernennen

Der mögliche zweite Jude auf dem Chefsessel der Weltraumbehörde hat ehrgeizige Vorstellungen

von Imanuel Marcus  05.12.2024