Niederlande

Schön dawnen

Auf den ersten Blick dürfte Rabbiner Eliyahoe Philipson von manchen Kollegen beneidet werden: Mehr als 10.000 Menschen kommen jedes Jahr in seine Synagoge. Dabei ist Philipsons Gemeinde in der Industriestadt Enschede ganz im Osten der Niederlande ziemlich überschaubar. Genau gesagt, ist sie so klein, dass sie schon vor Jahren mit den umliegenden fusionierte, denn es war manchmal schwierig, überhaupt einen Minjan zusammen zu bekommen.

Man ahnt anhand dieser Konstellation, dass der Besucherstrom wenig mit den Schabbatgottesdiensten zu tun hat und auch nichts mit den Veranstaltungen der Enscheder WIZO-Gruppe oder dem Bridge-Club. Vielmehr geht er auf das Prunkstück der Gemeinde zurück, die Synagoge. Ihre eleganten großen Kuppeln sind an einem so abgeschiedenen Ort nicht zu erwarten. »Circus Menko« nannte man sie einst ob ihrer hohen, zeltartigen Wölbungen und in Anlehnung an die Dynastie jüdischer Textilfabrikanten, die vor der Schoa in der Gemeinde eine tragende Rolle spielten.

Also führt Rabbiner Philipson, ein kleiner Mann mit aufmerksamen, freundlichen Augen, stolz durch das Gebäude, das von dem berühmten Architekten Karel de Bazel entworfen und 1928 eröffnet wurde. Die kleine Wochentagssynagoge mit pastellfarbenen Milchglasfenstern, das holzgetäfelte Versammlungszimmer, der prächtige Festsaal, die Küche. »Wir haben hier alles unter einem Dach«, sagt er.

kuppel
Das Herz des Hauses schlägt in der Großen Synagoge, deren Steinkuppel sich tatsächlich wie ein Zelt über dem hohen Raum erhebt. Drei Elemente verbinden sich hier: die kühle Eleganz des grauen Steins, die gleichmäßig verteilten Ornamente, Mosaikfenster und biblische Motive in Blau und Gold am unteren Kuppelrand sowie das dunkelbraune Holz von Balkonen und Bänken, die bei der Restaurierung vor zehn Jahren im Originalstil wiedererrichtet wurden. Verbunden wird all das mit einer ovalen Konstruktion aus zwölf Leuchtern, die zwischen Kuppel und Innenraum schwebt.

Wer hier nun eine darbende Gemeinde vor musealer Kulisse erwartet, hat sich getäuscht. »Wir sind klein, aber sehr lebendig«, sagt Irene Berg, die Vorsitzende. Zeugnis davon gibt der Gemeinschaftsraum, der nicht nur zum Kiddusch genutzt wird, sondern auch als WIZO-Laden und als Cafeteria des Frühstücksklubs.

Koscherer Wein lagert in Regalen, auf einem Tisch liegen Bücher, und die Bilder an den Wänden erzählen die Geschichte des Hauses: acht Herren, die zur feierlichen Eröffnung 1928 die Torarollen durch den Schnee tragen, oder ein Treffen der »Jüdischen Aufbau-Kommission« nach der Schoa – in der mehr als die Hälfte der 1200 Mitglieder ermordet wurden.

nachkriegszeit In dem Buch Die schönste Synagoge der Niederlande findet sich ein Foto aus der Nachkriegszeit: ein Ausflug der Gemeinde 1952. Neben vielen älteren Menschen fallen zwei kleine Mädchen ins Auge. »Dieses hier bin ich«, sagt die Vorsitzende und zeigt darauf. »Schon damals sagte man, die Gemeinde gibt es nicht mehr lange. Aber wir sind immer noch hier!«

Zwei Garanten dafür sind Irene Berg und Rabbiner Philipson – freilich mit sehr unterschiedlichen Perspektiven. Die eine verbrachte ihr ganzes Leben in Enschede und erlebte mit, wie ein Teil der prächtigen Synagoge in den 90er-Jahren aus Geldnot an einen Kindergarten vermietet und dann unter großen finanziellen Anstrengungen restauriert wurde.

Der andere, Philipson, kam erst vor fünf Jahren aus Israel zurück in sein Geburtsland. Er wuchs in Haarlem auf, seine Frau in Almelo, 1974 machten die beiden Alija. Eine Stellenanzeige, die Philipson in Jerusalem in der Zeitung las, brachte ihn zurück in die Niederlande. »Ich sagte zu meiner Frau, schau mal, dort, wo du herkommst, suchen sie einen Rabbiner. Wir beschlossen, dass ich mich melde. Die Gemeinde war begeistert. Erst dann fragten wir uns: Wollen wir das wirklich?«

familie Philipson vermisst seine Kinder und Enkel, die alle in Israel leben. »Aber unser soziales Leben, der Kontakt mit den Gemeindemitgliedern, das gibt mir sehr viel.« Von praktischem Wert für den Alltag des Rabbiners ist der silberne Kleinwagen, mit dem er an diesem Mittag ins benachbarte Hengelo aufbricht. Ein paar Dutzend der 150 Gemeindemitglieder leben dort. Ziel des Besuchs ist der alte jüdische Friedhof, einer von 40 in der ostniederländischen Provinz Twente.

Rund 100 Gräber stehen auf dem Rasengelände, um die 20 Menschen haben sich versammelt: ein Buch wird präsentiert, das davon erzählt, wie Freiwillige den Friedhof restaurierten. »Als ich 2008 zum ersten Mal hier war, traten mir die Tränen in die Augen«, sagt Philipson in einer improvisierten Ansprache. Jetzt sieht die Ruhestätte wieder ansprechend aus.

Kurz vor Schabbatbeginn ist er zurück in Enschede. Das Gros der Besucher wird wohl wieder erst am Sonntag kommen, wenn es in der Synagoge Führungen gibt. Verantwortlich dafür ist eine Stiftung, die nach der Restaurierung gegründet wurde und kulturelle Veranstaltungen organisiert. Im Frühjahr eröffnete sie im Erdgeschoss ein regionales Dokumentationszentrum, das der jüdischen Geschichte der Grenzregion gewidmet ist und ebenfalls Besucher anzieht. Mit Fundraising-Kampagnen trägt die Stiftung auch wesentlich dazu bei, die Synagoge zu erhalten.

Eliyahoe Philipson, der früher IT-Ingenieur war und erst spät Rabbiner wurde, ist dankbar dafür. »Es ist eine große Ehre für mich, hier als Rabbiner arbeiten zu können«, sagt er. Und doch geht es ihm eigentlich um etwas anderes. »Viel wichtiger als das Gebäude sind die Menschen.«

www.synagoge-enschede.nl

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