tschechien

»Jüdische Kosmopoliten«

Dass etwas Unheilvolles in Gang geraten ist, etwas Grundstürzendes, hat selbst Denny Stecher gemerkt, damals als Zwölfjähriger in der Schule im schlesischen Ort Jablunkov. »Wir mussten die Schulbücher aufschlagen und ganze Seiten herausreißen«, sagt er. »Dann ist der Lehrer durch die Reihen gegangen und hat sie eingesammelt. Ich glaube, die haben sie anschließend verbrannt.« An das Foto auf diesen Seiten kann sich Denny Stecher noch erinnern, selbst heute als alter Mann: Es zeigte einen Herrn im streng sitzenden Anzug, dunkle Haare, ernster Blick – es zeigte Rudolf Slánsky.

Was Denny Stecher, der kleine Junge, damals am Anfang der 50er-Jahre noch nicht ahnte: Dieser Slánsky sollte sein Le- ben verändern und das Leben der anderen Juden in der damaligen Tschechoslowakei. »Als Slánsky mit den Mitangeklagten vor Gericht stand in diesem riesigen Schauprozess, kam es jeden Tag in den Nachrichten: Er sei ein Verräter und ein Jude, er diene dem Zionismus und alle diese Tiraden.« Die Stimmung im Land wandte sich gegen die Juden, wieder einmal, und sie wurde stetig angeheizt von der Staatssicherheit und ihrem inszenierten Prozess gegen die vermeintlichen Klassenfeinde.

verschwörung Der Slánsky-Prozess im Jahr 1952 markierte einen Wendepunkt in der noch jungen Geschichte des tschechoslowakischen Kommunismus. Etliche der einstigen Funktionäre standen auf einmal vor Gericht; in der typischen Rhetorik dieser Zeit warfen ihnen die Ankläger eine staatsfeindliche Verschwörung vor. Einer der Beschuldigten war Eugen Löbl, der als Staatssekretär im Handelsministerium von einem Tag auf den anderen verhaftet wurde. In seinen Memoiren, die zu den eindrucksvollsten Zeugnissen über den Prozess gehören, schreibt er Jahrzehnte später:

»Ich sollte ein Protokoll unterschreiben, in dem dieses Geständnis enthalten war: ›Bei geschäftlichen Verhandlungen mit kapitalistischen Staaten habe ich Verträge abgeschlossen, die für die kapitalistischen, vor allem jüdischen Händler vorteilhaft waren und unvorteilhaft für die Republik.‹«

Eigentlich aber ging es in dem Prozess gar nicht um Eugen Löbl. Im Mittelpunkt stand Rudolf Slánsky, der Generalsekretär der kommunistischen Partei. Er galt als Moskau-treu bis zur Selbstverleugnung, war einer der Hardliner im Sozialismus. »Er gehörte ohne Zweifel zu denen, die den Kommunisten den Weg an die Macht ebneten und die mitverantwortlich dafür waren, wie das Regime aussah«, sagt der Prager Historiker Oldrich Tuma. Vermeintliche Staatsfeinde räumte Slánsky gnadenlos aus dem Weg. »Die meisten seiner Opfer waren völlig Unschuldige«, urteilt Tuma.

Eines Tages dann fiel Slánsky seinen eigenen Methoden zum Opfer. »Man muss das aus der damaligen Zeit heraus verstehen«, sagt Tuma: »Die Kommunisten haben es wohl wirklich für wahrscheinlich gehalten, dass die Imperialisten versuchen wollen, in ihr System einzudringen, um den Kommunismus zu besiegen. Die Staatssicherheit suchte also fieberhaft nach Verrätern, auch auf den höchsten Ebenen. Am Schluss war es wie russisches Roulette – niemand wusste, wen es als Nächstes treffen würde.«

Das höchstrangige Opfer des kommunistischen Verfolgungswahns war eben jener Rudolf Slánsky, der mit seinen vermeintlichen Mitverschwörern den gleichen Verhörprozeduren ausgesetzt war, die er selbst eingeführt hatte. Eugen Löbl schreibt:

»Sie haben mir verboten zu sitzen. Ich musste bei den Verhören stehen. Sie dauerten durchschnittlich 16 Stunden täglich mit zwei Stunden Pause dazwischen. Ich musste also jeden Tag 18 Stunden stehen. Für den Schlaf blieben sechs Stunden. Alle zehn Minuten klopfte der Wärter an die Tür. Ich musste sofort aufstehen und rufen: ›Untersuchungshäftling Nummer 1473 meldet: Alles in Ordnung!‹ So haben sie mich 30-, 40-mal in der Nacht aus dem Tiefschlaf gerissen. Ein weiteres Instrument war der Hunger; man war nie satt.«

14 Männer waren zusammen mit Rudolf Slánsky angeklagt, elf von ihnen waren Juden.

»Ich habe um Mitteilung gebeten, was sie mir eigentlich vorwerfen, damit ich meine Unschuld beweisen kann. Sie sahen darin einen typisch jüdischen Trick. Ich wolle also erfahren, was sie über meine Straftaten wissen, damit ich genau das zugeben kann und zielgerichtet alles andere verschweige, was sie noch nicht wissen.«

propaganda »Wir sind in Mitteleuropa. Der Antisemitismus hat hier immer eine Rolle gespielt«, sagt Historiker Oldrich Tuma. »In den 50er-Jahren herrschte große Not, man war in der Wirtschaftskrise und suchte einen Schuldigen. Das war schon im Aufbau der Prozesse zu erkennen, in der Propaganda. Ein Teil der Gesellschaft hat das sicherlich geglaubt.«

»Sie haben mir von Anfang gezeigt, dass das Urteil über mich schon stehe, und wenn ich mein Leben retten wolle, müsste ich zumindest gestehen. Auf meine Weigerung wiederholten sie stereotypisch ihre Beschuldigung und sagten mir, dass sie ausreichend Zwangsmittel haben, um mich zum Reden zu bringen. Als Einleitung haben sie eine lange antisemitische Tirade losgelassen, für die sich selbst ein Gestapo-Mann nicht hätte schämen müssen.«

Dass manche der Angeklagten mit ihrem Judentum nichts am Hut hatten und Rudolf Slánsky sogar seinen Geburtsnamen Salzmann abgelegt hatte – all das spielte in dem Prozess keine Rolle. Bei der paranoiden Suche nach vermeintlichen Verrätern, nach Spionen und »Schädlingen« war der Staatssicherheit jedes Mittel recht. Logisch waren die Anklagen nicht – und konsistent auch nicht. Eugen Löbl beschreibt, wie sich im Laufe seiner Jahre im Gefängnis die Vorwürfe ständig änderten. Verhaftet wurde er unter dem Verdacht, mit Tito in Jugoslawien gemeinsame Sache zu machen. Später war davon keine Rede mehr.

»In der zweiten Dezemberhälfte wurde ich zum slowakischen, bourgeoisen Nationalisten. Im März war ich dann kein slowakischer, bourgeoiser Nationalist mehr, sondern wurde zum Kosmopoliten jüdisch- bourgeoiser Herkunft und Mitglied der antistaatlichen Gruppe von Slánsky.«

»Der primäre Sinn der Anklage war nicht antisemitisch«, sagt Historiker Oldrich Tuma. Man habe einfach nach einem Vorwand für den Prozess gesucht – für den Prozess, über dessen Ursache und Verlauf sich die Historiker bis heute streiten. Klar ist indes das Ergebnis: Rudolf Slánsky wurde zum Tode verurteilt und am 3. Dezember 1952 hingerichtet, und mit ihm zehn seiner Mitangeklagten. Viele Beobachter verspürten damals stille Genugtuung, oft auch Schadenfreude: Derjenige, der zuvor so vielen Unschuldigen den Tod gebracht hat, fällt schlussendlich seinem eigenen System zum Opfer.

Für Denny Stecher und die anderen Juden in der Tschechoslowakei allerdings war der Prozess mit der Urteilsverkündung noch lange nicht zu Ende. Viele machen in ihm die Wurzeln eines Antisemitismus aus, der sich über die gesamte kommunistische Zeit bis zur politischen Wende halten konnte.

Die Staatssicherheit versuchte, die jüdischen Einrichtungen mit Spitzeln zu infiltrieren, und bis zum Ende des Regimes herrschte innerhalb der Gemeinden eher Misstrauen als Solidarität: »Das war eine schlimme Situation. Es gab etliche Gerüchte, wer in der Gemeinde wohl Agent der Staatssicherheit sei«, sagt Denny Stecher. Als er selbst 1985 für ein Amt im Gemeindevorstand kandidierte, erinnert er sich, sei er selbst ins Visier des Geheimdienstes geraten, der ihn ständig zum Verhör vorgeladen habe.

spuren Und der Prozess zu Beginn der 50er-Jahre, welche Spuren hat er hinterlassen? »Für mich persönlich muss ich sagen, dass sich mir gegenüber alle gut verhalten haben«, sagt Denny Stecher. Die Lehrer hätten ihr Wissen um seine jüdische Herkunft nicht ausgenutzt, einer habe ihm sogar zu Jom Kippur frei gegeben, damit er in die 60 Kilometer entfernte Synagoge fahren konnte. Das Klima aber sei rauer geworden: »Ein Nachbar hat zu meiner Mutter gesagt: Jetzt machen die Kommunisten das mit euch Juden so, wie es die Deutschen gemacht haben«, erinnert sich Denny Stecher.

Er selbst hat später, nachdem er aus dem kleinen Jablunkov zum Studieren nach Prag gegangen war, über manche Dinge lieber geschwiegen: »Am Gymnasium wussten alle, dass ich jüdisch bin. An der Hochschule habe ich das nur zwei oder drei Kommilitonen gesagt. Wir haben nie darüber gesprochen.«

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