Ungarn

»Fidesz wird gewinnen«

Schoa-Gedenken des jüdischen Gemeindebundes Mazsihisz am 19. März in der Budapester Dohany-Straße Foto: dpa

»Führerkult«, sagt Peter Tibor Nagy und fährt sich mit der Hand über seinen grauen Bart. »Viktor Orbán ist zurzeit der charismatischste Politiker im Parlament«, erklärt der 51-Jährige. Das werde der nationalkonservativen Regierungspartei Fidesz am Sonntag vermutlich erneut zum Wahlsieg verhelfen.

In Nagys Wohnung stapeln sich Bücher. Seit Jahren beobachtet der Soziologe und Historiker die politischen Ereignisse in Ungarn. Orbáns Charisma, sagt er, sei nur einer der Faktoren für seinen Erfolg. Was es dem Regierungschef leicht mache, sei die schwache Zivilgesellschaft und die Selbstzerstörung des linken Lagers, glaubt Nagy.

»Es gab viele Probleme mit den Linken«, erinnert er sich. »Allerdings waren sie wenigstens dazu bereit, sich kritisch mit der ungarischen Geschichte zu befassen.« Die aktuelle Regierung stoße die jüdische Gemeinde mit ihrer Erinnerungspolitik jedoch vor den Kopf, sodass Konflikte den Diskurs bestimmen. Der Verband der jüdischen Gemeinden in Ungarn, Mazsihisz, hat erstmals mit seiner regierungsfreundlichen Position gebrochen – »und sich damit auf die Seite der mehrheitlich säkularen Juden in Ungarn gestellt«, so Nagy. »Jetzt ziehen wir alle an einem Strang.«

Gedenkpolitik Auslöser für den Streit zwischen Regierung und jüdischer Gemeinde war die Bewertung des 19. März 1944. An diesem Tag besetzte Nazi-Deutschland das autoritäre Ungarn von Reichsverweser Miklós Horthy, seinem langjährigen Verbündeten. Orbáns Regierung stellt Ungarn als Opfer Nazi-Deutschlands dar – dies suggeriert auch ein von der Regierung geplantes Mahnmal: Der Erzengel Gabriel, eine Allegorie für Ungarn, wehrt sich gegen den Angriff des deutschen Adlers. Fidesz zufolge sei Ungarn für die Ermordung seiner rund 500.000 Juden nicht verantwortlich gewesen, denn das Land war ja besetzt. Die Behauptung ist dreist: Die binnen 56 Tagen durchgeführte Deportation war nur mit kräftiger Unterstützung der ungarischen Behörden möglich.

Der Unschuldswahn der Budapester Regierung geht so weit, dass Sándor Szakály, der Direktor des regierungsnahen Institutes »Veritas« (Wahrheit), Deportationsaktionen des ungarischen Staates »fremdenpolizeiliche Angelegenheiten« nannte – die betroffenen Juden hätten schließlich keine ungarische Staatsbürgerschaft besessen. Die jüdische Gemeinde stemmt sich gegen diese Tatsachenverdrehung. Mazsihisz boykottiert alle Regierungsprojekte zum Holocaust-Gedenkjahr 2014.

Vor zwei Wochen, am 19. März, demonstrierte Nagy zusammen mit vielen anderen, die sich an der Gedenkpolitik der Regierung stoßen, vor Budapests größter Synagoge in der Dohány-Straße. Seite an Seite stand er mit den Vertretern der Mazsihisz, unter ihnen Rabbiner Zoltán Radnóti. Von den Wahlen verspricht sich der 42-Jährige genauso wenig, wie er an einen Regierungswechsel glaubt: »50 Prozent wird Fidesz sicher bekommen.«

Das entspricht auch dem Ergebnis aktueller Umfragen. Demnach kommt das linksliberale Oppositionsbündnis Kormányváltás – »Regierungswechsel« – nur auf 30 Prozent. Und auch mit dem Erfolg der rechtsextremen Jobbik muss man rechnen: Sie liegt in Umfragen derzeit bei 15 Prozent.

Bei dem Gedanken an das linke politische Lager verdreht Radnóti die Augen und seufzt. »Die ehemalige Regierung unter der linken MSZP wollte religiöse Gruppen generell nicht fördern.« Fidesz hingegen habe eine enge Beziehung zur katholischen Kirche und fühle sich deshalb auch dazu verpflichtet, die Juden zu unterstützen. Es sei paradox: »Wir Juden mögen Fidesz zwar nicht sonderlich, aber wir bekommen Geld von ihnen«, sagt Radnóti. »Durch sie haben wir die Möglichkeit, unsere Gemeinde zu entwickeln.« Zu einem hohen Preis: Die Regierung wolle ihnen vorschreiben, wessen sie zu gedenken haben. Als Zeichen des Protests sammelt Mazsihisz nun Geld, um die von der Regierung versprochenen 1,2 Million Euro selbst aufzubringen. »Wir wollen der Regierung zeigen, dass wir nicht auf ihr Geld angewiesen sind«, betont Radnóti.

Befürchtung Streit tobt auch um das Gedenk- und Bildungszentrum »Haus der Schicksale«, das besonders an die in der Schoa umgekommenen Kinder erinnern soll. Zentrumsleiterin Mária Schmidt ist auch für das umstrittene »Haus des Terrors« verantwortlich, das sowohl den Opfern der Nazizeit als auch denen des Kommunismus gewidmet ist. »Wir wissen nicht, welche Botschaft das Zentrum vermitteln will«, sagt Radnóti skeptisch: »Wir befürchten, dass Schulklassen dort künftig lernen: Die jüdischen Kinder seien von den Nazis getötet worden, und die guten Ungarn wollten sie retten.«

Die Inhalte des Zentrums gemeinsam mit Mazsihisz zu planen, lehnten sowohl Mária Schmidt wie auch die Regierung ab. »Man hat versucht, uns das Zentrum als nette Geste zu verkaufen«, echauffiert sich Radnóti. Nach den Skandalen um das Museum hat auch die Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ihre Zusammenarbeit mit dem Zentrum abgesagt.

Jobbik »Wir sind für die Regierung uninteressant«, sagt János Dési, der stellvertretende Chefredakteur der linksliberalen Zeitung Népszava. »Wie viele Wähler machen die Juden in Ungarn denn aus?« Wie auch Nagy vermutet Dési, dass die meisten Juden eher das Oppositionsbündnis wählen werden. Viel wichtiger seien für Fidesz die Jobbik-Unterstützer, so der Journalist. Das sieht er als einen Hauptgrund für die zuweilen rechtsextreme Rhetorik der Regierung. Über einen möglichen Regierungswechsel zu spekulieren, hält Dési für »Unsinn«. »Fidesz wird die Wahl mit großem Vorsprung gewinnen«, stellt er nüchtern fest.

Egal wie stark sie in die Gemeinde eingebunden sind, egal ob Rabbiner, Intellektueller oder Journalist: Pessimismus prägt Ungarns jüdische Bevölkerung in den Tagen vor der Wahl. Doch den Kampf um die Geschichte geben sie nicht auf. János Désis letzte Hoffnung bleibt Budapest: Die Stadt sei schon immer liberaler als der Rest des Landes gewesen, und vielleicht gewinnt zumindest hier die Opposition. Ganz sicher könne man es nicht wissen, sagt Dési: »Den Zusammenbruch des Kommunismus hatte ich mir auch nie vorstellen können.«

Spanien

Mallorca als Vorbild

Das Stadtparlament von Palma hat eine Antisemitismus-Resolution verabschiedet – anders als der Rest des Landes

von Sabina Wolf  26.07.2024

Sport

Der Überflieger

Artem Dolgopyat ist in Israel ein Star. Bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio gewann der Turner Gold, 2023 wurde er Weltmeister. Nun tritt er in Paris an

von Martin Krauß  26.07.2024

Europäisches Parlament

»Zittert. Das hier ist nur der Anfang«

Die frisch gebackene französische Abgeordnete Rima Hassan hetzt gegen Israel

von Michael Thaidigsmann  25.07.2024

Ausstellung

Olympioniken im KZ Buchenwald

Auf dem Ettersberg bei Weimar treffen unterschiedlichste Biografien aufeinander

von Matthias Thüsing  25.07.2024

Frankreich

»Man ist schließlich französisch«

Ganz Paris feiert die Olympischen Spiele. Ganz Paris? Nicht alle Juden fühlen sich vom erwünschten »Wir-Effekt« angesprochen. Denn das Land bleibt zerrissen

von Sophie Albers Ben Chamo  25.07.2024

USA

Die zweite Wahl?

Mit dem Rückzug von Joe Biden und der Kandidatur von Kamala Harris könnte das Rennen um die Präsidentschaft noch einmal richtig spannend werden

von Michael Thaidigsmann  24.07.2024

Jüdische Emigration

Die Niederlande - Ein Ort der Zuflucht für Juden?

Die Historikerin Christine Kausch nimmt das Leben jüdischer Flüchtlinge in den Blick

von Christiane Laudage  24.07.2024

Vor 80 Jahren

Von Rhodos nach Auschwitz

1944 wurden 2000 Jüdinnen und Juden von Rhodos nach Auschwitz deportiert. Nur wenige überlebten

von Irene Dänzer-Vanotti  23.07.2024

Jerusalem

Nach Gaza entführter Holocaust-Experte für tot erklärt 

Der Historiker Alex Dancyg ist in der Geiselhaft umgekommen

 22.07.2024