Portugal

Ein Niedersachse am Atlantik

Jahrgang 1916: Fritz Lieblich Foto: Anna Mayr

In akzentfreiem Deutsch mit einer leicht niedersächsischen Färbung begrüßt Fritz Lieblich seine Gäste. Deutsch, so erzählt der knapp 97-Jährige, habe er seit 1935 nur manchmal noch mit seiner Schwester Ilse gesprochen. Auf dem Tisch im Wintergarten stehen ein kühles Bier und eine Wurstplatte. Der Blick durch die großen Fenster geht auf Porto mit seinen Brücken und den Fluss Douro. Nur ein Wohnblock schränkt den Panoramablick ein. »Früher konnte man bis zum Meer sehen«, stellt der alte Herr bedauernd fest. Fritz Lieblich ist der letzte lebende deutsch-jüdische Flüchtling in der nordportugiesischen Stadt.

Er wurde 1916 im niedersächsischen Melle als jüngster Sohn einer jüdischen Familie geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters zogen die Lieblichs nach Hildesheim. Dort hatte Fritz seine Barmizwa. Nur wenige Ereignisse deuteten den antisemitischen Hass an, der bald folgen sollte – und es verhinderte, dass Fritz die Schule beendete. Im Jahr 1932, erzählt Lieblich, sei während der Schulpause ein Lehrer zu ihm gekommen und habe ihn vor seinen Mitschülern gewarnt: »Fritz, geh nach Hause, schnell! Die haben etwas geplant.« Es war sein letzter Schultag, danach traute er sich nicht mehr auf die Straße.

Nur einmal noch verließ er das Haus – an Silvester 1932: Er und sein bester Freund wollten den Umstand ausnutzen, dass die meisten Einwohner der Stadt betrunken waren und den Jahreswechsel feierten. Doch als die beiden Jungen an einer Gaststätte vorbeikamen, wurden sie von einem SA-Mann erkannt. Die Nazis machten Jagd auf sie, es wurde sogar scharf geschossen. Dass er mit dem Leben davongekommen ist, grenze an ein Wunder, meint Lieblich rückblickend. Danach entschloss er sich, Deutschland zu verlassen.

Ausreise Anfang 1934, nach einem Aufenthalt bei seinen Großeltern im Ruhrgebiet, bestieg er in Hamburg ein Schiff in Richtung Portugal. Im Juni legte das Boot im Hafen von Porto an, wo bereits ein Onkel sowie seine beiden Geschwister Ilse und Ernst auf ihn warteten. Portugal war damals rückständig und wurde von dem Diktator António de Oliveira Salazar regiert. Lieblichs Schwester Ilse Losa hat sich in ihrem Exilroman Unter fremden Himmeln mit dieser Zeit auseinandergesetzt und die bedrückende Atmosphäre im Land literarisch verarbeitet.

Fritz Lieblich, der keinen Schulabschluss hatte, wurde Deutschlehrer. »Die Portugiesen nahmen Deutschstunden, weil sie Mitleid mit uns Flüchtlingen hatten«, erzählt er, »sie wollten uns helfen.« Durch eine Zeitungsannonce wurde er auf ein niederländisches Unternehmen aufmerksam, das in den portugiesischen Bergbau investieren wollte und einen Dolmetscher suchte. Nach kurzer Tätigkeit als Übersetzer wurde Lieblich mit der Leitung einer Bergbaumine beauftragt. »Es war sehr primitiv dort«, erinnert er sich, »es gab keinen Strom, kein fließend Wasser, keine Toiletten.« Der junge deutsche Flüchtling ohne Schulabschluss vertrat später dieses und andere Unternehmen international und hatte viel Erfolg.

Staatsbürgerschaft Lieblichs Verhältnis zu Deutschland war gespalten. Erst Ende der 50er-Jahre bot die Bundesrepublik dem bis dato Staatenlosen die Wiedereinbürgerung an. Lieblich nahm den deutschen Pass an, doch Bonns Generalkonsul wollte dafür den alten Pass mit dem gestempelten »J« für »Jude« zurückhaben. Lieblich weigerte sich. »Das ist doch ein Zeitdokument«, sagt er und zeigt den Pass, den er bis heute in einer Schachtel mit den wenigen Fotos aus seiner Jugend aufbewahrt.

Dies sah damals auch der Konsul ein und stellte Lieblich einen Pass auch ohne Rückgabe des alten aus. Dennoch wurde Deutschland nicht wieder Fritz Lieblichs Heimat: Ende der 30er-Jahre hatte er seine portugiesische Frau kennengelernt, und nach 1945 kamen seine beiden Töchter auf die Welt. Mittlerweile ist Lieblichs Familie auf fast 30 Personen angewachsen: Kinder, Enkel, Urenkel – alle wohnen in Porto und Umgebung. Fritz Lieblich ist kein Flüchtling mehr, er ist in der Fremde längst zu Hause.

Medienbericht

Katar soll mutmaßliches Missbrauchsopfer von Karim Khan ausspioniert haben

Das Emirat scheint sich in den Skandal um den Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eingemischt zu haben, wie Recherchen nun zeigen

 07.11.2025

Kommentar

In Zohran Mamdanis New York werden Juden geduldet, nicht akzeptiert

»Liberale Zionisten« müssen in der Regierung des neuen Bürgermeisters keinen »Lackmustest« fürchten. Was beruhigend klingen soll, zeigt, wie stark der Antisemitismus geworden ist - nicht zuletzt dank Mamdani

von Gunda Trepp  07.11.2025 Aktualisiert

Hurrikan Melissa

»Ich habe seit einer Woche nicht geschlafen«

Wie ein Rabbiner vom Wirbelsturm in Jamaika überrascht wurde – und nun selbst Betroffenen auf der Insel hilft

von Mascha Malburg  06.11.2025

Kommentar

Wo Israel antritt, rollt der Ball ins moralische Abseits

Israelische Spieler und Fußballfans werden schon lange dafür diskriminiert, dass sie von anderen gehasst werden.

von Louis Lewitan  06.11.2025

Kommentar

Warum Zürichs Entscheid gegen die Aufnahme von Kindern aus Gaza richtig ist

Der Beschluss ist nicht Ausdruck mangelnder Menschlichkeit, sondern das Ergebnis einer wohl überlegten Abwägung zwischen Sicherheit, Wirksamkeit und Verantwortung

von Nicole Dreyfus  06.11.2025

New York

ADL will Mamdani unter Beobachtung stellen

Die Anti-Defamation League erwartet vom neugewählten New York Bürgermeister nichts Gutes. Jetzt hat die jüdische Organisation angekündigt, man werde genau hinschauen

 05.11.2025

Amsterdam

Wegen IDF-Kantor: Concertgebouw sagt Chanukka-Konzert ab

Die renommierte Musikhalle hat wegen des geplanten Auftritts von IDF-Chefkantor Shai Abramson das alljährliche Konzert abgesagt. Die jüdische Gemeinschaft ist empört und will gegen den Entscheid klagen

von Michael Thaidigsmann  05.11.2025 Aktualisiert

Essay

Mamdanis demokratische Steigbügelhalter

Führende Politiker der Demokraten haben aus Opportunismus die Wahl des Israel-Hassers Zohran Mamdani zum New Yorker Bürgermeister ermöglicht - und so in Kauf genommen, dass aus Worten gegen Israel wieder Gewalt gegen Juden werden könnte

von Menachem Z. Rosensaft  05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025