Grossbritannien

Ed am Ende

Foto: imago

Mit nach unten gezogenen Lippen und ernster Miene trat Labour-Chef Ed Miliband am Freitag vor die Fernsehkameras. Die Konservativen hatten am Morgen mit David Cameron die britischen Unterhauswahlen gewonnen. Hätte es Labour geschafft, wäre Ed Miliband der erste jüdische Premierminister seit Benjamin Disraeli (1804–1881) geworden. Stattdessen trat Ed Miliband noch am gleichen Tag als Labour-Chef zurück.

Für den 45-Jährigen war es kein einfacher Wahlkampf. Schon während seiner Kandidatur zum Labour-Chef hatte er sich der Anschuldigung des Brudermords stellen müssen, denn er war gegen seinen älteren Bruder David angetreten. Anders als dieser, der ein Vertreter der Politik des langjährigen Premiers Tony Blair war, forderte Ed mehr soziale Gerechtigkeit und überzeugte damit seine Genossen.

Medienschlacht Vor zwei Jahren versuchte die rechtsgerichtete Boulevardzeitung Daily Mail Ed Miliband durch die Herabsetzung seines 1994 verstorbenen Vaters anzugreifen. Der Marxist Ralph Miliband, ein Flüchtling aus Brüssel mit polnisch-jüdischen Wurzeln, habe Großbritannien gehasst und »britische Werte« verachtet, hieß es da. Ed Miliband wehrte sich dagegen, öffentlich und laut.

Auch ein Foto, das Ed Miliband beim uneleganten Verzehr eines Specksandwiches zeigt, wurde von Zeitungen wie der Sun immer wieder gedruckt, als sei es ein Argument gegen den Labour-Chef. Selbst einen Tag vor der Wahl sah man dieses Bild auf Seite eins der Sun. »Rettet unseren Speck! Glaubt seinen Schweinegeschichten nicht, und lasst ihn draußen!«, las man.

Der jüdische Soziologe Keith Kahn-Harris bezeichnete diese Schlagzeilen als »nahezu antisemitisch« und stand mit seiner Meinung nicht allein. Als Gegenreaktion fotografierten sich ebenfalls am Tag vor der Wahl Hunderte beim Essen, spürten gleichsam Fotos anderer Politiker auf, alle mit Bissen im Mund, und veröffentlichten dies in den sozialen Medien mit dem Hashtag JeSuisEd.

Andere Kritiker Ed Milibands glaubten, er trete nicht charismatisch genug auf, obwohl sein Ansehen in den vergangenen Monaten massiv gestiegen war. Viele wünschten sich ein Ende der Austeritätspolitik von Premier Cameron, und Miliband war der, der diese Hoffnung wahr machen konnte. Aber was auch immer er tat, jeder noch so kleine Schritt wurde negativ interpretiert.

Und so kam es, dass die Medien sofort nach Schließung der Wahllokale einen klaren Sieg der Konservativen prophezeiten. Im Laufe der Nacht gelangte Labour dann zwar an die Spitze – bis gegen fünf Uhr am nächsten Morgen die Ergebnisse aus den englischen Wahlkreisen eintrafen und die Konservativen aufholten und am Ende mit 331 Sitzen einen klaren Sieg davontrugen.

Nationalisten Bemerkenswert an diesen Wahlen war auch der Erfolg der schottischen Nationalisten SNP, die sich 56 von 59 schottischen Sitzen sicherten. Drei schottische Labourabgeordnete, die der parlamentarischen Gruppe »Labour Freunde Israels« angehörten, unter ihnen der Chef der schottischen Labour-Partei, Jim Murphy, verpassten den Einzug ins Unterhaus. Stattdessen wird nun einer der neuen SNP-Abgeordneten eine kompromisslose Anti-Israel-Politik nach Westminster tragen: Stewart MacDonald, Abgeordneter aus dem Süden Glasgows, gab bereits vor Monaten bekannt, er wolle Benjamin Netanjahu als Kriegsverbrecher vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag bringen. Seine politische Karriere, erklärte MacDonald stolz, habe mit Kampagnen für Palästina begonnen.

Was seine Aversion gegen Israel betrifft, löst der 47-Jährige den ultralinken George Galloway, einen der massivsten Gegner des jüdischen Staates im Unterhaus, ab. Galloway verlor in Bradford im Norden Englands seinen Sitz. Erst vor einem Jahr hatte er Bradford zur »Israel-freien Zone« erklärt.

Mit Galloway flog auch der anti-israelische Liberaldemokrat David Ward, jener Abgeordnete, der nach dem Pariser Massaker im Januar »JeSuisPalestinian« twitterte, zusammen mit 49 seiner Parteikollegen aus dem Unterhaus. Unter ihnen ist auch Vince Cable, der im vergangenen Sommer ein Waffenembargo gegen Israel forderte.

Doch auch der jüdischen Liberaldemokratin Lynne Featherstone, die sich offen gegen solche Kollegen aussprach, gelang es nicht, ihren Parlamentssitz zu verteidigen. Das lag weniger an ihrer persönlichen Leistung, sondern daran, dass viele britische Wähler die Liberaldemokraten für ihre Koalitionswilligkeit mit den Tories bestrafen wollten, denn ohne sie hätten die Konservativen im Jahr 2010 keine Regierungsmehrheit bilden können.

Wirtschaft Nun ist David Camerons Garde auch ohne Hilfe der Liberalen zur stärksten Kraft im Königreich geworden. Die Briten vertrauen den Konservativen in Sachen Wirtschaft, und die Partei spricht offenbar auch das Selbstwertgefühl an, gerade was die Beziehung zur EU betrifft. Unter den Konservativen finden sich auch wieder einige jüdische Abgeordnete wie Michael Fabricant, Michael Ellis und Robert Halfon, der neue Vizechef der Partei. Doch auch einige jüdische Labour-Abgeordnete konnten sich trotz des schlechten Wahlergebnisses halten. Zu ihnen zählen Luciana Berger in Liverpool, Fabian Hamilton in Leeds, Margaret Hodge im Osten Londons und Gerald Kaufman in Manchester. Der 84-Jährige wird der neue Parlamentsälteste sein.

Aber nicht überall wurde mit fairen Mitteln um Stimmen geworben. Neben den Attacken auf Miliband gab es auch im Londoner Wahlkreis Finchley und Golders Green, dessen Bevölkerung zu 37 Prozent jüdisch ist, durchaus Bösartiges. So erklärte der Konservative Mike Freer vor den Wahlen, er habe mitbekommen, dass Labour-Anhänger bei orthodoxen Wählern für Verunsicherung gesorgt hätten, indem sie darauf hinwiesen, dass er schwul ist. Zusammen mit der Tatsache, dass die Labour-Kandidatin Sarah Sackman anders als Freer jüdisch ist, sollte das die Chancen auf einen Labour-Wahlerfolg erhöhen. Doch am Ende konnte Freer seinen Sitz verteidigen. Er hatte sich wiederholt und ausnahmslos für Israel eingesetzt, als viele andere dem jüdischen Staat längst den Rücken kehrten.

Vor den Wahlen hatte eine Meinungsumfrage des Jewish Chronicle ergeben, dass die meisten jüdischen Wähler die Konservativen bevorzugen, da Camerons Regierung vorbehaltloser zu Israel stehe, viele Abgeordnete in der Interessengruppe »Konservative Freunde Israels« aktiv seien und die amtierende Regierung sich für höhere Staatszuwendungen für den Schutz jüdischer Einrichtungen einsetze. So stimmte man denn in Hendon und in Hertsmere, Bezirken mit starker jüdischer Bevölkerung, konservativ.

Doch in London-Nordhackney, für das seit Jahrzehnten eine Labour-Abgeordnete im Unterhaus sitzt, blieben die Stimmen der meist konservativ wählenden ultraorthodoxen Gemeinde Stamford Hills ohne Konsequenz. Wer lieber einen britischen Premierminister jüdischer Herkunft wollte, muss dennoch nicht ganz verzweifeln. Immerhin erwähnt David Cameron hin und wieder, dass er jüdische Wurzeln habe. Sein Ururgroßvater Emile Levita war Jude und wanderte um 1850 aus dem deutschsprachigen Raum nach England aus.

Auch wenn die Unterhaussitze alle vergeben sind, geht der Wahlkampf unter jüdischen Briten weiter. Denn am 17. Mai wählt die britisch-jüdische Dachorganisation Board of Deputies (BOD) einen neuen Präsidenten. Es geht heiß her, vor allem wegen der Kandidatur von Laura Marks, die eigentlich aus dem Reformjudentum kommt und erst kurz vor ihrer Kandidatur einer konservativen Synagoge beitrat. Nun diskutiert man darüber, ob orthodoxe Juden ihre Kandidatur akzeptieren können oder nicht. Das Wahlfieber im Vereinigten Königreich ist für die jüdische Bevölkerung noch nicht zu Ende.

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