Wie geht es den in der Ukraine verbliebenen Jüdinnen und Juden? Das herauszufinden, ist alles andere als leicht. Die Telefone der zahlreichen jüdischen Gemeinden und Einrichtungen im Land klingeln und klingeln, ohne dass jemand heranginge, oder sie sind sogar komplett abgemeldet. Bekommt man eine Person an die Strippe, muss es schnell gehen – die Verbindung ist schlecht, die Zeit ist knapp.
Mit Yaakov Dov Bleich, dem Oberrabbiner der Ukraine, konnte die Jüdische Allgemeine kurz sprechen. Auf die Frage, wie es ihm geht, antwortet der Rabbiner: »Gott sei Dank, wir haben Purim gefeiert!« Zusammen mit Hunderten Jüdinnen und Juden harrt er zurzeit in einem Ferienlager in der Nähe der Stadt Mukatschewo, unweit der ungarischen Grenze im Westen der Ukraine aus. »Purim zeigt uns, dass wenn es Probleme gibt, auch immer Hoffnung da ist«, sagt der gebürtige US-Amerikaner, dem offenbar nichts die Zuversicht zu nehmen vermag.
PURIM-FEIER Diejenigen, die sich an diesem ungewöhnlichen Ort zum gemeinsamen Purim-Feiern zusammengefunden hatten, kommen aus verschiedenen jüdischen Gemeinden der Ukraine, die meisten aber aus Kiew. Wie es für sie weitergehe, sei nicht eindeutig zu sagen, meint Bleich. Manche gingen nach Israel, »die meisten hoffen jedoch, dass der Krieg bald vorbei ist und sie zurückkehren können.« Die Hilfe, die die in Mukatschewo vorerst Gestrandeten von der internationalen jüdischen Hilfsorganisation Joint Distribution Committee sowie von den lokalen jüdischen Gemeinden bekämen, sei »überragend«, lobt der Rabbiner.
Während die Menschen in Mukatschewo vorerst in Sicherheit sind, spitzt sich die Situation in Mariupol immer weiter zu. Die Stadt wird seit Tagen von der russischen Armee belagert, und die Bewohner befinden sich in akuter Lebensgefahr. Auch die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft vor Ort wollen gerade vor allem eines: die Kampfzone verlassen. Der Rabbiner von Mariupol, Mendel Cohen, befindet sich zurzeit in Israel und versucht von dort aus die Flucht seiner Gemeindemitglieder zu organisieren. Das Telefonat beendet er mit gebrochener Stimme vorzeitig: Er muss sich jetzt um das Leben von Menschen kümmern.
Wie die »Times of Israel« berichtet, haben es einige Dutzend jüdische Familien geschafft, aus der Stadt zu fliehen. Dem israelischen Nachrichtenportal sagte die Jüdin Vika Korotkova, der die Flucht unter Lebensgefahr gelang, am Freitag: »Mariupol sieht aus wie Tschnernobyl.« Ihrer Einschätzung nach seien bis zu 80 Prozent der Gebäude zerstört worden. Zurzeit sind etwa 400.000 Menschen in der ukrainischen Hafenstadt vom russischen Militär eingeschlossen, mehrere Tausend Zivilisten sollen bereits getötet worden sein. Was genau das für die jüdische Gemeinschaft vor Ort bedeutet, ist zurzeit kaum einzuschätzen.
SCHOA-ÜBERLEBENDE Aus der jüdischen Gemeinschaft in Kiew konnten zwei Dutzend Schoa-Überlebende aus der Stadt geholt werden. Zurzeit befinden sie sich in einem Hotel an der Grenze der Ukraine zur Europäischen Union. Das sagte Boris Fuchsmann, Geschäftsmann und Vorsitzender der Jüdischen Konföderation der Ukraine. Derzeit sei man über die Aufnahme der Überlebenden mit verschiedenen Ländern im Gespräch. In Kiew selbst, sagt Fuchsmann, gebe es aktuell kaum noch jüdisches Leben. ja