Mallorca

Die Enkel wissen: Opa ist Jude

Miquel Segura Aguiló denkt nur ungern zurück an die Zeit vor seiner Hochzeit: Mehr als 50 Jahre ist es her, dass die Verwandten seiner Verlobten alles taten, um die Ehe zu verhindern. Es war eine Abordnung aus Tanten und Cousinen, erinnert sich der 76-Jährige, die noch am Tag vor der Trauung den Brauteltern ins Gewissen redeten. »Sie sagten, ich sei Jude, ich sei ein ›Xueta‹. Ich würde schlecht riechen, und es sei noch Zeit, die Hochzeit abzusagen.«

Die Trauung fand statt. Aber Miquel Segura Aguiló erlebte noch in den 60er- und 70er-Jahren auf Mallorca, was an der Tagesordnung war für viele sogenannte Xuetas, Nachfahren von Juden, die im Mittelalter gezwungen worden waren, zum Christentum zu konvertieren: Sie wurden ausgegrenzt, bespitzelt, diskriminiert.
Die jüdische Geschichte auf den Balearen geht zurück bis ins zweite Jahrhundert.

Damals flohen viele Juden aus Judäa und siedelten sich im Mittelmeerraum an, viele davon auf der Iberischen Halbinsel. Es gab Zeiten, in denen das katholische Königshaus den jüdischen Einwohnern Schutz bot – es waren viele Kaufleute darunter, Kartografen, Ärzte und Seefahrer. Vor allem im Mittelalter aber kam es vermehrt zu Pogromen, in der Folge gab es nur drei Optionen: Flucht, Tod oder Taufe.

KONVERTITEN Miquel Segura Aguiló kann seinen Stammbaum bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Auch seine Familie wurde wie die anderen jüdischen Inselbewohner gezwungen, den katholischen Glauben anzunehmen. »Bei der Kathedrale von Palma wurden sie mit einem Eimer Wasser getauft. Von diesem Moment an gab es offiziell keine Juden mehr auf Mallorca. Es gab die Konvertiten, und es wurde unterschieden zwischen Alt-Christen und Neu-Christen.«

Vor 600 Jahren brannte mitten in Palma de Mallorca der letzte Scheiterhaufen. Juden hatten sich geweigert, ihrem Glauben abzuschwören.

Die Zwangsgetauften und ihre Nachfahren wurden »Xuetas«, Spanisch: Chuetas, genannt. Keine sehr schmeichelhafte Bezeichnung. Denn umstritten ist, ob der Begriff hergeleitet wurde von der katalanischen Bezeichnung für Jude oder von dem katalanischen Wort für Speck oder Schweinefleisch. Das sagt Laura Miró Bonnin.

Auch sie stammt von einer Familie ab, die im Mittelalter zur Konversion gezwungen wurde. Miró Bonnin hat zu dem Thema geforscht. Dabei stellte sie fest, dass sich die Schicksale der vormals jüdischen Familien ähnelten. Es reichte schon allein der Verdacht aus, dass viele weiter heimlich nach jüdischen Gesetzen lebten, um vors Inquisitionsgericht gezerrt zu werden.

Vor 600 Jahren brannte mitten in Palma de Mallorca der letzte Scheiterhaufen, auf dem Menschen bei lebendigem Leib starben. Sie hatten sich geweigert, ihrem Glauben abzuschwören und sich zu Jesus Christus zu bekennen: Es waren Caterina Tarongí, ihr Bruder Rafael und der Rabbiner Rafael Valls. Überlieferungen zufolge sollen rund 30.000 Menschen zugesehen haben. Auch andere Juden wurden auf dem öffentlichen Platz verbrannt. Da sie sich unter Folter aber vom Judentum losgesagt hatten, wurden sie zuvor mit der Garrotte, einem Würgeisen, erdrosselt. Das galt als der gnädigere Tod.

NAMEN Toni Piña ist ein bekannter Koch auf Mallorca, auch seine Familie wurde seit Jahrhunderten unterdrückt: »Es gibt Berichte aus dem Jahr 1691 über einige Mitglieder meiner Familie, dass sie heimlich ihr Judentum pflegten. Der letzte Xueta, der 1700 durch die Inquisition beschuldigt wurde, war einer meiner Vorfahren – ein gewisser Daniel Piña. Es gab einige. Aber sie wurden nicht verbrannt, sondern zu Galeerendienst verurteilt.« Anschließend sei die Familie ruiniert gewesen, der Name Piña für Jahrhunderte zum Stigma geworden.

Miquel Segura Aguiló kann seinen Stammbaum bis ins Mittelalter zurückverfolgen.

Jeder auf Mallorca, sagt die Historikerin Laura Miró Bonnin, könne noch heute anhand der Nachnamen erkennen, welche Familien jüdischen Ursprungs sind. Namen wie Miró, Bonnin, Aguiló, Forteza, Cortés und Piña waren Anlass genug, ausgegrenzt zu werden. Für ihre Promotion hat sie ähnliche Schicksale recherchiert: »Xuetas wurden stigmatisiert, und es gab jede Menge Vorurteile. Etwa, dass sie schmutzig seien, geizig und verschlagen und nur auf ihren wirtschaftlichen Vorteil bedacht.«

Miquel Segura Aguiló hat Bücher über die jüdische Geschichte auf Mallorca geschrieben: Vieles kennt er aus eigener Anschauung. Über das Thema Xuetas habe man während der Franco-Diktatur offiziell nicht sprechen dürfen auf Mallorca, es fiel unter die Pressezensur. Dennoch sei er als junger Mann diskriminiert worden. »Wenn man abends aus dem Kino kam, dann haben sie an den Ecken gestanden und haben dir ›Xueta‹ oder ›Schwein‹ hinterhergerufen. Das war in der Diktatur eigentlich verboten.«

Und obwohl alle vormals jüdischen Familien zum katholischen Glauben konvertiert waren und sonntags in die Kirche gingen, wurde auch dort sehr genau in Alt-Christen und Neu-Christen unterschieden, sagt Segura Aguiló. »In der Osterwoche predigte der Priester von der Kanzel gegen die Juden, die immer noch unter uns lebten und die Jesus getötet hätten. Bis zum zweiten vatikanischen Konzil war das normal.«

TABU Viele Ausbildungswege waren für Mallorquiner mit jüdischen Vorfahren lange tabu, ebenso Karrieren beim Militär und in der Justiz. Ebenfalls waren gemischte Ehen lange tabu. Auch seine Mutter, erzählt Toni Piña, habe in Sóller um sechs Uhr morgens heiraten müssen, die Nachbarn wollten nicht, dass sie eine Xueta-Ehe einging.

Über das Thema Xuetas habe man während der Franco-Diktatur offiziell nicht sprechen dürfen.

Dabei seien die Gesetze dagegen schon eine Ewigkeit abgeschafft gewesen, die Vorbehalte in Palma und kleineren Insel-Orten hätten sich aber hartnäckig gehalten. Auch er selbst musste ähnliche Erfahrungen machen: »Wenn man als Teenager zum ersten Mal ein Mädchen treffen wollte, dann sagten viele Eltern: Mit diesem Jungen gehst du nicht aus, das ist ein Xueta.«

Noch in den 70er- und 80er-Jahren sei es vor allem in dem Viertel von Palma de Mallorca zu Übergriffen gekommen, in dem viele Nachfahren von Juden lebten. »Das war vor allem, als zeitgleich im spanischen Fernsehen eine Serie über den Holocaust gezeigt wurde«, sagt Laura Miró Bonnin. »Es wurden Wände beschmiert, auch mit Hakenkreuzen. Das ist gerade mal rund 40 Jahre her.«

Heute ist das Thema Xuetas kein großes mehr auf der Ferieninsel. Wenn man Mallorquiner auf der Straße nach der Bedeutung des Begriffes fragt, können vor allem junge Leute kaum etwas damit anfangen. Ältere allerdings wissen meist, dass bestimmte Nachnamen auf jüdische Wurzeln zurückgehen. Aber zur Geschichte der Juden auf Mallorca weiß fast niemand etwas zu sagen.

TOURGUIDE Dani Rotstein möchte das ändern. Der junge Jude aus New York bietet Touren an auf den Spuren jüdischen Lebens in Palma de Mallorca. Synagogen oder Betstuben aus dem Mittelalter allerdings sucht man vergebens. Der erzwungenen Konversion im Mittelalter folgten Kirchenbauten; der Jesuitenorden etwa ließ genau auf den Mauern der alten Synagoge in Palma die Iglesia de Montesión errichten – eine katholische Kirche, deren Name Berg Zion bedeutet.

Als Koch habe er sich dem Judentum über das Torastudium und die Küche genähert, sagt Piña.

Rotstein führt die Besuchergruppen auch an der Kathedrale von Palma vorbei, gleich um die Ecke steht noch heute das Gebäude, in dem im Mittelalter über jüdische Familien gerichtet wurde. Für viele scheint die Geschichte unbekannt, auch wenn mallorquinische Teilnehmer häufig Xueta-Nachnamen tragen. Eine Frau sagt, sie wisse, dass ihr Name ein Xueta-Name sei, aber es sei ihr wichtig zu betonen, dass sie eine Katholikin sei, eine besonders gute sogar.

Dani Rotstein kennt das: »Viele der rund 20.000 Xuetas auf Mallorca sind heute sehr gläubige Katholiken und haben nicht das geringste Interesse, zum Judentum zurückzukehren. Es berührt sie nicht. Sie sind katholisch aufgewachsen und wollen es auch bleiben.«

Dennoch hat die junge jüdische Gemeinde auf Mallorca mittlerweile reichlich Zulauf. Spätestens seit sich Mallorca nach der Franco-Diktatur in den 70er-Jahren immer mehr dem Tourismus öffnete, wuchs auch eine Gruppe von Gläubigen heran, die später in Palma eine Synagoge gründete: in der Carrer de Monsenyor Palmer, im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, nicht weit vom Yachthafen entfernt. Daniel Rotstein ist aktives Mitglied und froh, dass er seinen Kindern ein jüdisches Umfeld bieten kann.

GEMEINDE Und auch Toni Piña und Miquel Segura Aguiló gehören heute zu den aktiven Mitgliedern der jüdischen Gemeinde. Sie gehören zu den ersten Xuetas, die zurückgekehrt sind zum Glauben ihrer Vorfahren. »Das ist etwas Besonderes«, sagt Dani Rotstein. »Vielleicht fühlten sie sich von ihren Vorfahren gerufen.« Denn schließlich sei es nicht einfach, Jude zu werden, man müsse unter anderem Hebräisch lernen und sich die Rituale aneignen.

Für Xuetas, die anhand ihres Stammbaumes belegen können, dass die Mütter einer jüdischen Familie abstammten, gibt es eine Sonderregel: Sie müssen nicht konvertieren, sie können ohne rabbinische Prüfung zurückkehren zum Judentum. Toni Piña sagt, als Koch habe er sich dem Judentum über das Torastudium und die Küche genähert. »Hier findet man, was man essen und wie man es zubereiten soll. Und während ich die Tora las und mir die Schwierigkeiten meiner Vorfahren hier auf Mallorca vorstellte, wurde in mir eine Spiritualität geweckt, die ich vorher nicht gekannt hatte. Ich sage immer, dass meine Spiritualität über den Kochtöpfen entstanden ist.«

Auch seine Frau hat den Glauben ihrer Vorfahren angenommen, sie haben ihr Eheversprechen vor einem Rabbiner in Israel wiederholt. Dass Kinder und Enkel Katholiken geblieben sind, ist für Piña kein Problem. Er denke und handle heute anders als früher, er sei auf andere Weise glücklich, und der Blick auf das Leben habe sich geändert. »Meine Enkel wissen: Ihr Opa ist Jude, und das heißt, dass er am Samstag nicht arbeitet. Und wenn meine Enkel mit mir essen, dann essen sie koscher.«

ENKEL Auch Miquel Segura Aguiló lebt heute unbeschwert. Er sitzt neben seiner Frau auf dem Sofa des gemeinsamen Hauses in Alcúdia, im Norden Mallorcas. Von hier hat er einen Blick auf die Bucht von Pollenca. Seine Frau hat vor ihm den Glauben gewechselt, sie musste als Katholikin konvertieren.

Er selbst ist voller Überzeugung zurückgekehrt zum Glauben seiner Vorfahren, regelmäßig feiert er mit seiner Frau in der Synagoge von Palma Schabbat und die Hohen Feiertage. Das alltägliche Leben habe sich geändert, und seine Kinder wüssten das. »Weihnachten gibt es für uns nicht mehr, und meinen Enkeln sagte ich: Das sind keine Weihnachtsgeschenke, sondern Geschenke zu Chanukka. Und ihnen«, sagt er lachend, »ihnen ist es egal.«

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