Niederlande

Der Preis des Überlebens

Anneke Kohnke ist eine Prinzessin. Ihre Mutter, Hollands Königin, schmuggelte sie während des Krieges in die USA, damit sie dereinst den Thron übernehme. Das zumindest erzählte sie früher in New York, wenn man sie nach ihrer Vergangenheit fragte. Entsprungen ist diese Geschichte dem Loch, das bis vor Kurzem all ihre Erinnerung ausmachte – an die Zeit, bevor sie 1946 im Alter von sechs Jahren auf der anderen Seite des Atlantiks von Bord eines Schiffes ging. Sie wuchs bei Onkel und Tante auf. »Hätte ich gefragt, wo ich herkam und wer meine Eltern waren, man hätte geantwortet, ich sollte kalt duschen und es vergessen.«

Wunden Eigentlich ist Anneke Kohnke die Tochter deutscher Juden, die 1933 in die Niederlande emigrierten. Was dort an Traumatischem geschah, zeigt ein Dokumentarfilm, der zurzeit in niederländischen Kinos läuft. The Baby heißt er, denn ein solches war die Protagonistin, als sie von einer Kurierin des Verzet, einer Widerstandsbewegung, zu einer Pflegefamilie in die Nähe von Den Haag gebracht wurde. Im Unterschlupf der Eltern hätte ein schreiendes Baby die Entdeckung bedeuten können. Die Pflegefamilie rettete Anneke Kohnke das Leben – und hinterließ lebenslange Wunden.

Die Filmemacherin Deborah van Dam (44) rückt diesen Gegensatz in den Fokus – und genau darum sorgte The Baby bereits vor dem offiziellen Kinostart für Diskussionen. »In den Niederlanden steht der Blick auf den Krieg noch immer unter der Perspektive, wie gut wir doch alle waren. Doch es ist Zeit, dass wir uns eingestehen, dass es eine Grauzone gibt zwischen Gut und Böse«, sagt van Dam. Der Film folgt ihrer Devise: »Es ist wichtig, die Wahrheit zu kennen, egal, wie schmerzhaft sie sein mag.«

Die Wahrheit serviert The Baby scheibchenweise. Dem Publikum, aber auch der Protagonistin, die 65 Jahre lang in ihrem eigenen Schatten lebte. Man ahnt, dass etwas faul ist an dieser Geschichte: Das verstörte Mienenspiel der Geretteten spricht Bände, als sie anlässlich der Yad-Vashem-Ehrung ihrer Pflegefamilie erstmals in die Niederlande zurückkehrt.

Bestrafung Eine Recherche der Regisseurin ergibt, dass die streng calvinistischen Pflegeltern mit dem Mädchen nicht zurechtkamen. Ihre hölzerne Erziehung samt brachialer Bestrafungsmethoden prägten Kohnke lebenslang. Auch dass sie nach dem Krieg versuchten, ihnen übergebene Wertgegenstände der Kohnkes zu behalten und einer Behörde einen horrenden Betrag für die Versorgung des Mädchens in Rechnung stellten, untergräbt das Bild selbstloser Retter.

Einer Versöhnung mit der gewohnten Perspektive verweigert sich der Film standhaft. Beim Wiedersehen tut sich zwischen Anneke und ihrem Pflegebruder Fred ein schmerzhafter Graben auf. Während Fred vor der spießbürgerlichen Kulisse seines Elternhauses ein Revival der vermeintlich glücklichen Kleinkindjahre ersehnt, erinnert sich Anneke an Albträume, in denen sie »durch Straßen, klein wie diese« lief und fürchtete, die Nazis könnten sie erwischen. Mehr als ein verblüfftes »Oh« kann und muss der Pflegebruder, der in seiner Freizeit am liebsten ausgerechnet mit Modellbahnen spielt, nicht sagen. Die warme Decke über der Geschichte gehört bei Deborah van Dam nicht zum Repertoire.

Wie aktuell der Film ist, zeigte sich Ende November beim renommierten Amsterdamer Dokumentarfilmfestival, wo The Baby bei der Weltpremiere in die Publikums-Top-Ten gewählt wurde. Die Regisseurin hofft nun unter anderem auf Gastspiele in Deutschland, »denn schließlich kamen die Kohnkes von dort«. Sicher ist sie sich, dass er in den Niederlanden seine Wirkung nicht verfehlen wird: »Das Baby ist auf der Welt. Jetzt muss es nur noch laufen lernen.«

Sofia

Nach Nichtwahl ausgeschlossen

Bulgarien steckt in einer politischen Dauerkrise - und mittendrin steht ein jüdischer Politiker, den seine Partei jetzt ausschloss

von Michael Thaidigsmann  09.12.2024

Vatikan

Papst Franziskus betet an Krippe mit Keffiyeh

Die Krippe wurde von der PLO organisiert

 09.12.2024

Österreich

Jüdisch? Arabisch? Beides!

Mit »Yalla« widmet sich das Jüdische Museum Hohenems einer komplexen Beziehungsgeschichte

von Nicole Dreyfus  07.12.2024

Australien

Anschlag auf Synagoge »völlig vorhersebare Entwicklung«

Die jüdische Gemeinde in Australien steht unter Schock. Auf die Synagoge in Melbourne wurde ein Anschlag verübt. Die Ermittlungen laufen

 06.12.2024

Australien

Brandanschlag auf Synagoge in Melbourne

Das Gotteshaus ging in Flammen auf

 06.12.2024

Streit um FPÖ-Immunität

Jüdische Studenten zeigen Parlamentspräsidenten an

Walter Rosenkranz habe Ansuchen der österreichischen Staatsanwaltschaft auf Aufhebung der Immunität von drei FPÖ-Parteifreunden verschleppt.

von Stefan Schocher  05.12.2024

USA

Trump will Jared Isaacman zum NASA-Chef ernennen

Der mögliche zweite Jude auf dem Chefsessel der Weltraumbehörde hat ehrgeizige Vorstellungen

von Imanuel Marcus  05.12.2024

Frankreich und der Nahe Osten

Diplomatisches Tauziehen

Paris soll eine Schlüsselrolle im Aushandeln der Waffenruhe im Libanon gespielt haben

von Florian Kappelsberger  04.12.2024

Nachruf

Der Mann mit dem bestechenden Lächeln

Der israelische Resilienz-Experte David Gidron starb am Sonntag

von Imanuel Marcus  04.12.2024 Aktualisiert