Newtown

»An einem dunklen Ort«

Montag in Newtown: Veronique Pozner (l.) verlässt die Beerdigung ihres sechsjährigen Sohnes Noah. Foto: gettyimages

Es gibt Jobs, die möchte man um keinen Preis der Welt haben. Etwa den Beruf von Rabbi Shaul Praver, der seit elf Jahren den Reformtempel »Adath Israel« im Städtchen Newtown in Connecticut leitet. Vergangenen Freitag wurde er gebeten, sich mit anderen Seelsorgern (es gibt in Newtown noch eine katholische Kirche und ein halbes Dutzend protestantischer Gotteshäuser) in der Feuerwache seiner Heimatstadt einzufinden. Dort waren Eltern versammelt, die vor Angst außer sich waren – sie warteten auf Nachrichten von ihren Kindern.

Am Vormittag war ein offenbar Geistesgestörter in die Sandy-Hook-Elementarschule eingedrungen und hatte angefangen, mit einem Sturmgewehr und einer Pistole um sich zu schießen. Unter den Wartenden erkannte Rabbi Praver Veronique Pozner, die zu seiner Gemeinde mit ungefähr 100 Familien gehört.

Er hatte ihrer älteren Tochter Unterricht erteilt und ihren älteren Sohn zur Barmizwa geführt. Die beiden jüngeren Kinder – Noah und seine Zwillingsschwester Arielle, beide sechs Jahre alt – kannte er nicht. Veronique Pozner stand unter Schock. Rabbi Praver nahm ihre Hand, legte den Arm um ihre Schulter und sprach sanft mit ihr.

leichnam Am Sonntagmorgen schaute er Veronique Pozner zu, während sie die Trauerhalle betrat. Es war das erste Mal, dass sie den Leichnam ihres kleinen Sohnes sah. Sein Körper war von einem Tuch bedeckt, und sie war gebeten worden, dieses Tuch nicht zu entfernen. Elf Kugeln hatten Noah getroffen. Seine Zwillingsschwester, die in die Parallelklasse ging, war dem Todesschützen unverletzt entkommen.

Später erinnerte sich Rabbi Praver, dass er angefangen hatte, sanft mit der verwaisten Mutter zu sprechen. Er sagte ihr, Noah sei noch bei ihnen, weil seine Seele überlebt habe, auch wenn er physisch die Welt verlassen hat. Er fragte sie, ob sie sich an sich selbst im Alter von sechs Jahren erinnerte; und als Veronique Pozner das bejahte, sagte er, ihr sechsjähriges Selbst sei nicht verschwunden, sondern in ihrem Erwachsenen-Ich aufgehoben. So verhalte es sich auch mit der Seele ihres Jungen.

Er habe ihr, sagte der Rabbi, eine Art »geistliches Morphium« verabreicht, um den Schmerz zu linden. Wenigstens für einen Moment habe sie in dem Gedanken, dass die Seele ihres Kindes überlebt habe, Trost gefunden.

worte Im fernen Los Angeles löste die Nachricht von dem Massaker an der Grundschule zwei kurze E-Mails aus: »Hast du von Connecticut gehört?«, schrieb Joshua Stepakoff um 10.48 Uhr vormittags an Mindy Finkelstein. »Ja. Bin ohne Worte. Musste Arbeit verlassen. Wie geht es dir?«, textete sie zurück.

Stepakoff und Finkelstein sind Überlebende: Sie waren Kinder, als vor 13 Jahren ein Geistesgestörter, der einer Gruppe von Neonazis angehörte, ein jüdisches Gemeindezentrum in Granada Hills betrat und aus einer halbautomatischen Waffe 70 Schüsse auf das Gebäude abgab. Fünf Menschen wurden verletzt, unter ihnen Stepakoff und Finkelstein. Der Täter ermordete dann noch einen Postboten, floh in einen anderen Bundesstaat und stellte sich der Polizei.

»Ich kann nicht in Worte fassen, wie es ist, angeschossen zu werden«, sagt Stepakoff heute. »Die Gefühle – emotionaler und physischer Schmerz – kann nicht jeder verstehen.« Mindy Finkelstein saß gerade im Auto. Sie kam von einer Konferenz und wollte ins Büro zurück, als die Nachricht sie ereilte. Sie erlitt eine akute Panikattacke. Ein Mitarbeiter tröstete sie, Finkelstein kehrte nach Hause zurück und blieb in ihrem Zimmer, wo sie Mails beantwortete, telefonierte, fernsah.

Sie hat leider keinen Trost für die Überlebenden in Connecticut. »Es gibt nichts, was ich ihnen sagen kann«, meint sie. »Meiner Erfahrung nach wird es nicht besser werden. Jedes Mal, wenn es wieder eine Schießerei gibt, werden sie sich fühlen wie damals.«

waffengesetze Die Familien von Joshua Stepakoff und Mindy Finkelstein haben durch das gemeinsame Trauma zueinander gefunden. Zusammen setzen sie sich dafür ein, dass in Amerika strengere Waffengesetze verabschiedet werden.

Diese Überzeugung ist unter amerikanischen Juden sehr populär. Das öffentliche Gesicht der Kampagne für strengere Waffengesetze ist vor allem New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg: Strengere Waffengesetze sollten für Barack Obama »Thema Nummer eins« sein, sagte er auf einer Pressekonferenz und fügte hinzu: »Er ist der amerikanische Präsident, und wenn er in seiner zweiten Amtszeit nichts tut, werden 48.000 Amerikaner mit illegalen Gewehren getötet werden.«

Verbot Unterstützung erfährt Bloomberg von Joe Lieberman, der derzeit noch als Senator für Connecticut in Washington sitzt. Er verlangt, der Kongress müsse jetzt handeln. Nota bene: Es geht dabei nicht um ein Verbot von Waffen schlechthin. Das Recht, Waffen zu tragen, wird schließlich von der amerikanischen Verfassung in ihrem berühmten Second Amendment garantiert.

Vielmehr geht es um ein Verbot für Sturmgewehre – das sind halbautomatische Militärwaffen, die fähig sind, mehrere Schüsse hintereinander abzugeben. Ferner geht es um Programme, bei denen Personen ihre illegalen Waffen gegen Bargeld bei der Polizei abliefern, ohne dass sie für deren Besitz belangt werden.

In Newtown weigert sich Rabbi Shaul Praver unterdessen, nach Antworten auf die Frage zu suchen, warum Gott das Böse zulässt. Wichtiger findet er es, sich um die Überlebenden zu kümmern. Er und seine christlichen Kollegen seien einander in diesen Tagen sehr nahe. Rabbi Praver sagt: »Während wir uns an einem dunklen Ort befinden, sind wir zugleich an einem sehr heiligen Ort.«

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