England

30 Bäume für Tu Bischwat

Wer von Orpington am südlichen Stadtrand Londons ein paar Stationen mit dem Bus fährt, gelangt in ein winziges Dorf, dessen einziger Stolz ein alter englischer Pub ist. Von dort aus geht es eine halbe Stunde zu Fuß eine gewundene Straße mit hohen Hecken entlang einen Hügel hinauf, dann weiter auf einem idyllischen, aber matschigen Weg, über Weiden, vorbei an stolzen Landsitzen und schließlich durch ein Wäldchen, bis man zu einem kleinen 400 Jahre alten Landgut aus rötlichen Backstein gelangt, dem Skeet Hill House.

Skeet Hill ist drei Hektar groß und gehört seit 1943 dem jüdischen Jugendfonds Großbritanniens. Äste liegen verstreut auf dem Boden, denn am Vortag hat es gestürmt, und auch sonst ist um diese Jahreszeit alles eher karg, obwohl im Gemüsegarten einiges wächst und auch an den blattlosen Bäumen schon die ersten Sprossen zu sehen sind. Große Rasenflächen ziehen sich über das Gelände, zu dem auch ein Fußballplatz und Klettergerüste gehören.

Seit rund 70 Jahren kommen Gruppen jüdischer Gäste hierher. Anfangs war es vor allem die Arbeiterklasse aus dem engen und stickigen Londoner East End, die am Wochenende hier im Grünen Ruhe fand.

Initiative Seit einem Jahr ist in Skeet Hill House eine unabhängige neue Initiative aktiv. Sie nennt sich Sadeh-Farm und ist eine Art Ökobauernhof im Entwicklungsstadium. »Ein jüdischer Ökobauernhof«, korrigiert Gründerin Talia Chain.
Das Jüdische ist der 29-Jährigen wichtig, denn das Judentum sei aus dem Landbau und der Tierhaltung heraus entstanden und beziehe sich mit seinen Zyklen, Regeln und Festen auf die Saat und die Ernte, betont sie. Ganz im Zeichen dessen begehe man Tu Bischwat, das Neujahrsfest der Bäume, auch auf der Sadeh-Farm.

»Am Sonntag werden wir bei einer Tu-Bischwat-Party 30 heimische Bäume pflanzen, die für die hiesige Natur und die Tiere wichtig sind«, sagt Talia Chain. Schon im vergangenen Jahr, ganz am Anfang des Projekts, hätten sie an Tu Bischwat Bäume gepflanzt. Stolz deutet sie auf zwölf kleine Obstbäume am Ende des Geländes rechts hinter einem Fußballtor. Doch für Chain – mittelgroß, dickes langes rotes Haar, rundliches Gesicht – geht es um mehr als nur um Bäume.

»Juden standen schon immer an der vorderen Front sozialer Bewegungen«, sagt sie voller Enthusiasmus. »Für mich und für die Generation nach mir ist die Frage des ökologischen Gleichgewichts auf der Erde das wichtigste Thema überhaupt.«
Die Farm, auf der seit einem Jahr Gemüsegärten entstehen und demnächst auch Legehennen und Ziegen gehalten werden, soll Juden die Beziehung zum Land, zu gesundem Essen, ja zum Judentum, erleichtern. Die Erfahrungen, die sie hier machen, sollen sie verändern, so wie Chain es selbst erlebt hat.

Als sie, ein Londoner Stadtkind, nach dem Studium in einer Modefirma landete, fragte sie ein Bekannter, ob sie Lust hätte, für drei Monate als Freiwillige in die USA zu gehen und auf der jüdischen Adamah-Farm in Connecticut zu arbeiten. Chain sagte spontan zu, doch ahnte sie nicht, worauf sie sich da einließ. Denn die Zeit auf »der Mutter aller jüdischer Farmen« sollte ihr Leben vollkommen verändern.

»Als ich nach London zurückkehrte, wollte ich etwas Ähnliches hier in Großbritannien machen. Doch es gab im ganzen Land keine jüdische Öko-Farm. »Mir wurde klar, dass ich dann wohl selbst eine aufbauen müsste.«

Also sammelte Chain zuerst Erfahrungen in einem Gartenbaubetrieb und machte dann eine Lehre in der Landwirtschaft. Nach dem Abschluss suchte sie nach einem geeigneten Gelände, das sich für eine jüdische Öko-Farm eignen würde.

Eine Freundin wies sie auf Skeet Hill hin. Größe, Umgebung, die Nähe zu London und die bereits bestehende koschere Großküche ließen den Ort für Chains Vorhaben perfekt erscheinen.

Enthusiasmus Einer von Talia Chains Kollegen ist Bryan, der Hausmeister. Er wohnt und arbeitet schon seit sieben Jahren in Skeet Hill House. In seinen Augen ist Talia so etwas wie ein Geschenk des Himmels, denn das Gut habe schon lange frischen jugendlichen Elan gebraucht, Enthusiasmus und eine Vision.
»Das Gut ist durch verschiedene Hände gegangen, und einer der letzten Besitzer hatte nicht das geringste Interesse zu investieren. Es ging lediglich darum, das alte Haus gerade noch so instand zu halten.«

Bryan hofft, dass er in ein paar Jahren wieder stolz auf das Gut sein kann und auf alles, was es hier gibt. Seit Talia mit ihrem Ökobauernhof begann, habe sich schon so einiges getan. Bryan zeigt auf den Gemüsegarten, in dem Salat, Kohl, Petersilie und Lauch wachsen. »Talia nennt es Orchard, das englische Wort für Obst- und Gemüsegarten. Na ja, für mich ist es eher ein edler Schrebergarten. Doch wer weiß, was sie noch zustande bringt, denn sie ist jung und sehr eifrig mit ihren Plänen.«

Bryan, der selbst nicht Jude ist, hat sich im Laufe der Jahre an das Jüdische gewöhnt, und auch an die ultraorthodoxen Gäste, die hier oft logieren. Also hofft er, sich wohl auch an »das Ökologische« zu gewöhnen, obwohl es ihm bislang nur sehr wenig vertraut ist, genau wie Talias Rede vom Veganen oder dem Crowdfunding.

Spenden Voller Freude erzählt Chain, wie es ihr gelungen sei, für die Eröffnung des Farmprojekts rund 17.000 Pfund (20.000 Euro) durch Crowdfunding aufzubringen, und wie sie durch Spenden innerhalb eines Jahres nochmal die gleiche Summe erhielt.

»Für mich ist hier ein Traum in Erfüllung gegangen«, sagt sie. »Es ist zwar viel Arbeit – wir haben Schulklassen und Freiwillige hier, veranstalten nachhaltige vegane Kochtage, und dazu kommt noch die Verwaltung –, aber ich tue alles gerne, denn es macht mir große Freude und viel Spaß.«

Inzwischen gibt es jeden Mittwoch auch einen nicht-traditionellen Minjan, und bald sollen auf der Farm ein Café, ein Laden und eine Naturschutzzone entstehen. »Später wäre es vielleicht auch denkbar, das Haus ökologisch und nachhaltig zu führen«, sagt Chain. Doch Putzfrau Julia hat Bedenken: Sie fragt sich, ob mit ökologischen Putzmitteln auch alles genauso sauber wird, und ob es nicht viel mehr kosten würde.

Talia Chain ist zuversichtlich. Um all das zu verwirklichen, brauche die Farm allerdings weitere Spenden und die Hilfe von Freiwilligen. »Auch Leute aus dem deutschsprachigen Raum sind sehr willkommen«, sagt sie. Ihr großes Ziel sei es, dass eines Tages die ökologische Verbundenheit und die Farm Teil dessen werden, was man unter »britischem Judentum« verstehe – also so selbstverständlich wie das Neujahrsfest der Bäume.

www.sadehfarm.co.uk

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