Eskalation im Norden

Schutzraum-Suche statt Schulbuch-Shopping

Ein öffentlicher Schutzraum in Tel Aviv Anfang August. Foto: Copyright (c) Flash 90 2024

Die Raketen der Hisbollah aus dem Libanon hätten Tel Aviv um fünf Uhr morgens treffen sollen. Zu einer Zeit, in der sich fast alle Städter noch in ihren Häusern aufhalten und schlafen. Das schrieb die New York Times am frühen Sonntagmorgen. Zwar dementierte die schiitische Terrormiliz dies, doch der Schock über einen möglichen Großangriff auf das Zentrum des Landes ist deutlich spürbar.

Es ist der erste Tag der letzten Ferienwoche in Israel. Traditionell gehen die Familien in diesen Tagen neue Schulranzen, Bücher und Stifte kaufen. Meist sind die Malls überfüllt, Schulkinder laufen von Laden zu Laden, wählen Hefte in ihren Lieblingsfarben aus, die Stimmung ist ausgelassen.

Doch an diesem Sonntag suchen viele Menschen stattdessen den nächstgelegenen Bunker, um sich in Sicherheit bringen zu können, kaufen Wasserflaschen und Notverpflegung für den Kriegsfall. Auf den Straßen der Metropole am Mittelmeer ist es außergewöhnlich ruhig.   

Weitere Airlines sagen Flüge nach Israel ab

Nach der Eskalation gaben weitere Fluggesellschaften, darunter Air France, Etihad Airways und Aegean Airlines, bekannt, dass ihre Flüge von und nach Tel Aviv abgesagt wurden. Die Unternehmen schlossen sich 16 anderen an, die die Einstellung von Flügen von und nach Israel angekündigt haben, darunter einige bis Montag, andere bis auf Weiteres.

Im Norden schrillten die Sirenen in den frühen Morgenstunden praktisch ohne Unterlass, als die mehr als 200 Geschosse der schiitischen Terrormiliz Hisbollah aus dem Libanon auf das Land niedergingen. Eine Rakete traf ein Haus in Manot, eine andere einen Hühnerstall in derselben Gemeinde und löste einen Brand aus. Verletzte gab es nach Angaben von Sicherheitskräften nicht.

Denn die meisten Ortschaften in der Nähe der Grenze zum nördlichen Nachbarn sind evakuiert, die Bewohner seit mehr als zehn Monaten aus ihren Häusern verbannt. Sie nächtigen auf Sofas von Familien und Freunden oder in Hotels im ganzen Land. In einer Woche beginnt auch für die Kinder aus dem Norden Israels wieder der Unterricht. Doch wann sie in ihre Heimat-Schulen zurückkehren dürfen, ist nach diesem Morgen noch ungewisser als zuvor.

»Echte Widerstandsfähigkeit kommt aus der Gemeinde selbst, und wir sind hier, um Werkzeuge und Fähigkeiten anzubieten, die den Gemeinden helfen, mit allem fertig zu werden.«

Angesichts der zunehmenden Spannungen in der Region haben IsraAID und die israelische Vereinigung der Gemeindezentren das Programm »Safe Harbor« (sicherer Hafen) ins Leben gerufen, bei dem 140 Resilienzteams für Nordisrael ausgebildet werden. Später soll es auf andere Teile des Landes ausgeweitet werden. Das Projekt wird in Zusammenarbeit mit der Schusterman Foundation und den Jewish Federations of North America durchgeführt.

»Safe Harbor« bietet den Bewohnern eine aktive Rolle bei der Notfallvorsorge. Die Resilienzteams werden in Zusammenarbeit und auf der Grundlage eines gemeinsamen Verständnisses mit den örtlichen Behörden auf komplexe Notfallsituationen reagieren, so IsraAid, die internationale Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Israel. »Im Moment ist es wichtig, lokale Führungspersönlichkeiten zu unterstützen und zu stärken, die am besten wissen, was ihre Gemeinden brauchen«, erklärt Einav Levy von IsraAid. »Echte Widerstandsfähigkeit kommt aus der Gemeinde selbst, und wir sind hier, um Werkzeuge und Fähigkeiten anzubieten, die den Gemeinden helfen, mit allem fertig zu werden.«

Doch viele örtliche Gemeindevorsteher sind erzürnt: Die Leiter der nördlichen Regionalräte gaben am Sonntagmittag bekannt, dass sie den Kontakt mit der Regierung einstellen, bis diese einen umfassenden Plan zur sicheren Rückkehr ihrer Bewohner in ihre Gemeinden und zur Sanierung der Region vorlegt. Sie bezeichneten den umfangreichen Angriff Israels im Libanon als »Operation Schalom Tel Aviv« und sagten, dies sei »der Höhepunkt der Abkopplung der israelischen Regierung von Hunderttausenden Bürgern im Norden«.

Nerven der Israelis liegen nach Wochen des Wartens völlig blank

»Wir haben Sie zehneinhalb Monate lang nicht interessiert, und von nun an interessieren Sie uns nicht mehr. Rufen Sie nicht an, kommen Sie nicht, senden Sie keine Nachrichten. Bis jetzt haben wir es allein geschafft, und wir werden es weiter allein schaffen«, heißt es in einer Gemeinschaftserklärung der Regionlräte Mateh Asher und Obergaliläa sowie aus dem Bürgermeisteramt in Metula.

Nach sieben Wochen Sommerferien, dem Großteil der Zeit unter immenser Anspannung ob eines drohenden Krieges mit dem Libanon und dem Iran, liegen die Nerven der Israelis völlig blank. Viele Eltern und Kinder sorgen sich, dass ein Krieg dem Schulbeginn am 1. September einen Strich durch die Rechnung machen könnte.

Tel Aviv gab bekannt, dass Freizeitaktivitäten in der Stadt zunächst abgesagt und Strände sowie Kulturzentren geschlossen wurden. Universitäten im Norden und in Tel Aviv setzten alle Prüfungen zunächst aus. Sechs Stunden nach Bekanntmachung hob die IDF jedoch die Versammlungsbeschränkungen in den meisten Teilen des Landes wieder auf.

Die Stadtverwaltung öffnete 240 öffentliche Sicherheitsräume und wies die Bevölkerung darauf hin, dass im Notfall auch Tiefgaragen genutzt werden könnten. Als besonders sicher gelten auch die Stationen der neuen U-Bahn, dem Light Rail. »Wenn ich daran denke, sehe ich Bilder des Krieges in der Ukraine vor mir«, so Michal Shechter, eine Mutter von zwei Kindern im Grundschulalter aus Tel Aviv. »Wie die Menschen sich dort in den U-Bahn-Stationen drängten, um den russischen Raketen zu entkommen. Es ist schockierend, aber so könnte es tatsächlich auch uns passieren.«

»Rufen Sie nicht an, kommen Sie nicht, senden Sie keine Nachrichten. Bis jetzt haben wir es allein geschafft, und wir werden es weiter allein schaffen.«

Die Shechters haben keinen privaten Sicherheitsraum in ihrer Wohnung im Süden von Tel Aviv. Der öffentliche ist mindestens zwei Minuten zu Fuß entfernt. Ob sie es dorthin schaffen, wenn der Alarm zu schrillen beginnt? »Das wissen wir nicht, es gibt keine offizielle Angabe, wie lange es dauert, bis eine Rakete aus dem Libanon in der Stadt ankommt«, sagt sie. »Und Zeit zum Zählen haben wir in so einer Situation ja wirklich nicht.«

In den 1950er-Jahren, als die ersten öffentlichen Bunker in Israel gebaut wurden, ertönten die Sirenen etwa 30 Minuten vor dem Einschlag. Genug Zeit, um sich in aller Ruhe in einen Schutzraum zu begeben und vorher sogar noch das Nötigste einzupacken. Doch heute, im Zeitalter hochentwickelter und rasend schneller Geschosse, ist die Zeit knapp. Je nachdem, wo sie leben, haben die Einwohner Israels heute 15 bis 90 Sekunden, um sich in Sicherheit zu bringen, sobald die Sirene schrillt oder ein Alarm über die App des Heimatfrontkommandos von ihren Mobiltelefonen ertönt.

Sollte es eine Ankündigung geben, dass es eine kriegerische Auseinandersetzung mit der Hisbollah oder auch mit dem Iran gibt, hat Michal Shechter vor, mit ihrer Familie in die nächste U-Bahn-Station umzuziehen und sogar dort zu nächtigen. »Das ist ganz sicher nicht bequem. Aber ich gehe lieber auf Nummer sicher, als plötzlich in einem Raketenhagel aufzuwachen, und nicht zu wissen, wohin.«

Andrea Kiewel

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