Knesset

Regieren in Zeiten des Virus

Hat jetzt 28 Tage Zeit: der ehemalige Generalstabschef und heutige Parteivorsitzende Benny Gantz Foto: Flash 90

Die 23. Knesset ist am Montagnachmittag vor leeren Rängen vereidigt worden. Wegen des Versammlungsverbotes von mehr als zehn Personen während der Corona-Krise empfing Präsident Reuven Rivlin jeweils lediglich drei Parlamentarier zur selben Zeit in der ehrwürdigen Halle.

Den Auftakt machten Premierminister Benjamin Netanjahu und Knessetsprecher Yuli Edelstein, beide Likud, sowie der Vorsitzende der Zentrumsunion Blau-Weiß, Benny Gantz. Letzterem war kurz zuvor offiziell vom Präsidenten das Mandat erteilt worden, eine Regierung zu bilden. Dafür hat er 28 Tage Zeit.

»Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich alles tun werde, um eine Regierung – national, patriotisch und so breit wie möglich – in wenigen Tagen zu formieren«, machte der ehemalige Stabschef deutlich. Die Regierung soll alle Menschen repräsentieren, die Blau-Weiß, Likud oder andere Parteien gewählt haben. Sie soll die Interessen der Menschen in Judäa und Samaria genauso vertreten wie die der arabischen Israelis und aller Bürger in der Peripherie und im Zentrum.

Eine Mitte-Links-Regierung müsste von den arabischen Parteien toleriert werden.

Gantz betonte, dass er sämtlichen Bürgern in Israel dienen und eine Regierung anführen wolle, »die die israelische Gesellschaft von den Auswirkungen des Coronavirus sowie von der Epidemie der Spaltung und des Hasses befreit«.

In diesen ungewöhnlichen Tagen müssten Anführer ihre persönlichen Erwägungen beiseite legen. Er sagte, er biete seinen Ellbogen – Händeschütteln ist derzeit untersagt – all jenen, die dabei sein wollen.

ERSCHÖPFUNG Sowohl Gantz’ Verbündete, das Linksbündnis aus Arbeitspartei und Meretz sowie Israel Beiteinu, die Partei von Avigdor Lieberman, als auch die komplette Vereinte Arabische Liste hatten dem Präsidenten in Konsultationen den Vorsitzenden von Blau-Weiß als Ministerpräsident vorgeschlagen.

Orly Levy-Abekasis von Gescher versagte ihm ihr Mandat. Damit vereint Gantz, der erst seit rund einem Jahr in der Politik ist, 61 Abgeordnete auf sich, eine knappe Mehrheit in der Knesset.

»Die Israelis sind von drei aufeinanderfolgenden Wahlen erschöpft«, wandte sich Rivlin an die Abgeordneten. Die derzeitige politische Krise sei »sehr real, sehr tief und bricht uns entzwei. Wir haben keine Wahl, denn wir haben kein anderes Volk und kein anderes Land. Wir sind dazu bestimmt zusammenzuleben«. Netanjahu und Gantz mahnte Rivlin: »Gebt den Menschen eine Regierung!«

koalition In den kommenden Tagen könnte Blau-Weiß damit beginnen, eine Koalition mit Duldung der arabischen Parteien zu bilden. Es wäre nicht das erste Mal, dass in Israel eine Regierung ohne Mehrheit an der Macht wäre. In den 90er-Jahren führte der damalige Premier Yitzhak Rabin eine mit 56 Parlamentariern an, die mehr als zwei Jahre im Amt war.

Eine Regierung mit Unterstützung der arabischen Parteien wird von Kritikern als problematisch angesehen, vor allem in Sicherheitsanliegen.

Nach dem Grundgesetz ist das erlaubt. Jedoch wird eine Regierung mit Unterstützung der arabischen Parteien von Kritikern als problematisch angesehen, vor allem in Sicherheitsanliegen. Lieberman hatte arabische Parlamentarier mehrfach als »Terrorunterstützer« bezeichnet.

Zudem ist auch die Option einer Einheitsregierung aus Blau-Weiß und Likud noch nicht vom Tisch. Am Sonntagnachmittag hatte Rivlin Netanjahu und Gantz zu einer Dringlichkeitsbesprechung geladen, um diese Möglichkeit zu diskutieren. Auch Netanjahu hatte Gantz eine große Koalition nahegelegt, um die Gesundheitskrise um das Coronavirus besser in den Griff zu bekommen. Allerdings verlangt er, als Erster auf dem Sessel des Premiers Platz zu nehmen.

vierte wahl Blau-Weiß lehnte das Angebot ab, weil Netanjahu dadurch ihrer Meinung nach lediglich auf eine vierte Wahl zusteuern will. »Jemand, der die Einheit will, verschiebt nicht den Prozess um ein Uhr nachts«, twitterte Gantz. »Wenn Sie es ernst meinen, dann können wir reden.« Er bezog sich damit auf die Entscheidung der jetzigen Regierung, den Beginn des Korruptionsprozesses gegen Netanjahu um mehr als zwei Monate zu verschieben. Er soll nun statt am 17. März am 24. Mai beginnen.

Lieberman pflichtete dem bei: »Netanjahu will in sechs oder acht Monaten neue Wahlen auf den Flügeln eines Corona-Sieges erreichen. Letztlich bleibt das Meer das Meer, die Araber bleiben die Araber, und Bibi bleibt Bibi.«

Am Wochenbeginn hatte Blau-Weiß beim juristischen Berater der Knesset eine dringende Bewertung angefordert, ob der jetzige Knessetsprecher Yuli Edelstein die Befugnis hat, eine Debatte zu verhindern, die über seine Ablösung entscheidet.

Sowohl die Zentrumsunion als auch Liebermans Israel Beiteinu wollen Edelstein, der dem Likud angehört, ersetzen. Bei den vergangenen Wahlen im Februar hatte der Likud 36 Mandate geholt, Blau-Weiß 33. Der rechtsreligiöse Block hatte es dieses Mal lediglich auf 58 Mandate in der Knesset gebracht.

MINDERHEIT Amir Fuchs, Leiter des Programms zur Verteidigung demokratischer Werte im Israelischen Demokratie-Institut (IDI), erklärt dazu: »Teil der Kampagne, die eine von arabischen Parteien unterstützte Regierung delegitimieren will, ist der Ausdruck ›Minderheitsregierung‹. Und das ist fragwürdig. Denn die derzeitige Übergangsregierung unter Benjamin Netanjahu wird lediglich von 55 Knessetmitgliedern unterstützt. 65 sind in der Opposition.« Wenn eine Regierung den Titel Minderheitsregierung verdient, so Fuchs, »dann diejenige, die derzeit im Amt ist«.

Die Bezeichnung sei ein Fachbegriff aus der Politikwissenschaft für eine Regierung, die von mindestens der Hälfte der Knessetabgeordneten unterstützt wird, auch wenn einige davon nicht Teil der regierenden Koalition sind. Nach dem Grundgesetz muss jede Regierung die Mehrheit in der Vertrauensfrage haben.

Weder im April noch im September 2019 oder im Februar 2020 hat die amtierende Regierung allerdings die Mehrheit erhalten. »Im Gegenteil«, so Fuchs, »das Volk sprach dieser Regierung ihr Vertrauen nicht aus.«

paradox Und doch würden deren Mitglieder sich so benehmen, als wäre dies alles normal, und ignorieren dabei das demokratische Paradox, an dem sie teilhaben. Die Übergangsregierung entscheide über grundsätzliche Dinge in Sachen Sicherheit, Diplomatie, Wirtschaft und soziale Angelegenheiten – und stimmt sogar über Kabinettsbesetzungen ab, erläutert der Experte vom IDI.

Weder im April noch im September 2019 oder im Februar 2020 hat die amtierende Regierung die Mehrheit erhalten.

Eine kontroverse Entscheidung, die die Koalition in Jerusalem am Dienstagmorgen einstimmig traf, ohne die Mehrheit in der Knesset zu vereinen, ist die der Überwachung von Mobiltelefonen in Zeiten der Corona-Krise durch die Geheimdienste, zunächst für eine Dauer von 30 Tagen.

Diese Entscheidung wurde unter Umgehung der Knesset getroffen, obwohl Netanjahu zuvor zugesagt hatte, dies nicht zu tun. Die flächendeckende Überwachung der gesamten Öffentlichkeit hat die Besorgnis von Bürgerrechtlern auf den Plan gerufen und stellt die Legitimität der Übergangsregierung, dies im Alleingang zu entscheiden, infrage.

Denn die Handlungen der Übergangsregierung unterlägen den Grundsätzen, die vom Obersten Gericht festgelegt worden sind, gibt Fuchs zu bedenken. »Und so kann eine Kritik dieser Regierung an einer möglichen ›Minderheitsregierung‹ nur als lächerlich angesehen werden.«

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