Im Koalitionsvertrag sind sie noch Partner. Doch der ist kaum mehr das Papier wert, auf das er geschrieben wurde. Gut war die Beziehung zwischen Premierminister Benjamin Netanjahu vom konservativen Likud und seinem Verteidigungsminister Benny Gantz, Vorsitzender der Zentrumspartei Blau-Weiß, noch nie. Jetzt dürften die Risse kaum mehr zu kitten sein. In der vergangenen Woche wurde ein Misstrauensvotum gegen die Regierung angenommen – und Gantz stimmte mit Ja.
Bei der Abstimmung unterstützten 61 gegen 54 Abgeordnete das Vorhaben, die Knesset aufzulösen. Zwar bedarf es drei weiterer Durchgänge, zweifellos aber ist es der erste Schritt auf dem Weg zu Neuwahlen in Israel. Es wären die vierten innerhalb von weniger als zwei Jahren.
Die politische Krise hat allerdings nicht erst damit begonnen. Zuvor gab es in Jerusalem mehr als ein Jahr lang eine Übergangsregierung, und nach den Wahlen vom März steht eine dysfunktionale Koalition aus Likud, Blau-Weiß und den ultraorthodoxen Parteien an der Spitze, die mehr streitet als regiert. In Zeiten von Covid-19 und der daraus resultierenden Gesundheits- und Wirtschaftskrise eine denkbar ungünstige Konstellation.
LOGISTIK Neuwahlen, in Israel ein offizieller Feiertag, würden den Staat rund drei Milliarden Schekel kosten, etwa 750 Millionen Euro. Während der jetzigen Wirtschaftskrise durch den Lockdown wird dieses Geld dringend woanders gebraucht. Bei nahezu einer Million Arbeitslosen und mehr als 80.000 Geschäften, die bereits Konkurs angemeldet haben, würden Wahlen das Bruttoinlandsprodukt, das ein Defizit von 13 Prozent aufweist, noch weiter senken.
Laut Umfragen würden rechte Parteien bei Neuwahlen vorne liegen.
Für die Finanzierung der Wahlen müsste eine spezielle Gesetzgebung erlassen werden. Hinzu kommen die logistischen Schwierigkeiten, die Bürger während einer Pandemie an die Wahlurnen zu schicken. Es könnte sein, dass man die Wahlzeit auf mehrere Tage ausweiten müsste, um die Abstandsregeln zu gewährleisten.
Derweil wird gemunkelt, dass der Premier daran interessiert sei, die Wahlen so spät wie möglich durchzuführen, damit er mit den Lorbeeren einer möglichen Impfung und dem Ende der Pandemie in den Wahlkampf ziehen kann. Auch würden bis dahin die ersten Zeugenaussagen im Korruptionsprozess gegen ihn bereits einige Monate zurückliegen und dann zumindest aus den Schlagzeilen verschwunden sein.
Gantz dagegen würde die Wahlen sicherlich gern so früh wie möglich sehen. Angeblich will er Geld sparen und den leidigen Wahlkampf verkürzen. Der Verteidigungsminister, der laut Rotationsvereinbarung der Koalition als Premier nachrücken sollte, sei mittlerweile überzeugt, dass er weder je Ministerpräsident noch der Haushalt für 2021 abgesegnet wird. Beides würde den endgültigen Bruch der Koalition und damit ein Ende der Regierung bedeuten.
Netanjahu jedoch beharrt darauf, dass er gegen Neuwahlen und für die Einheit des Volkes sei. Blau-Weiß kontert, dass das Volk genug von Netanjahus Lügen habe. In Anspielung an das Verfahren gegen den Regierungschef und die Verzögerungstaktiken bei der Entscheidung über den Staatshaushalt hieß es weiter: »Gäbe es keinen Prozess, hätten wir einen Haushalt.«
HAUSHALT Gantz traf sich Anfang dieser Woche mit Finanzminister Israel Katz (Likud), um doch noch einen Weg zu finden, beim Haushalt auf einen Nenner zu kommen. Die Zusammenkunft endete jedoch ohne Ergebnis. Israels Bevölkerung wächst jährlich um zwei Prozent. Das Staatsbudget jedoch ist bereits seit mehr als eineinhalb Jahren nicht angepasst worden.
Ist der Haushalt nicht bis Ende Dezember verabschiedet, werden automatisch Neuwahlen eingeleitet.
Oppositionsführer Yair Lapid (Jesch Atid) wollte dies mit dem Vertrauensvotum vorher erreichen: »In wenigen Stunden können wir das Ende der schlechtesten Regierung herbeiführen, die es in der Geschichte des Landes gegeben hat.« Wirtschaftsminister Amir Peretz von der Arbeitspartei stimmte dem zu: »Es kann nicht sein, dass wir mit einer Regierung weitermachen, bei der die einzige Gewissheit die Ungewissheit ist.«
Auch die Verbindung zwischen Lapid und Gantz, die noch als Team in den Wahlkampf gezogen waren, ist angespannt. Als Gantz sich entschied, wegen der Corona-Krise mit Netanjahu eine Regierung zu formen, zerbrach die gemeinsame Liste. Und die Freundschaft obendrein. Jetzt bittet Lapid, es noch einmal miteinander zu versuchen. »Denn es gibt keine andere Alternative zu Netanjahu.«
Aus der Sicht der Links- und Zentrumsparteien mag das stimmen. Die nationalreligiöse Partei Yamina unter der Leitung von Naftali Bennett sieht das indes völlig anders. Bei den vergangenen Wahlen holte sie sechs Sitze, derzeit liegt sie in Umfragen mit bis zu 25 nur knapp hinter dem Likud. Grund sind die Wähler von konservativen Parteien, viele sefardische Juden. Sie stimmen traditionell rechts und lehnen, selbst wenn sie sich gegen Netanjahu stellen, die meist von aschkenasischen Israelis gegründeten Mitte- oder Linksparteien kategorisch ab.
Naftali Bennett sieht sich nach eigenen Angaben bereits auf dem Sessel des Premiers.
BLOCK Bennett sieht sich nach eigenen Angaben bereits auf dem Sessel des Premiers. Sehr zu Netanjahus Entrüstung, denn die beiden verbindet eine jahrelange persönliche Fehde, die laut Medienberichten besonders von Netanjahus Ehefrau Sara immer wieder neu entfacht wird.
Es ist also sehr wahrscheinlich, dass auch bei den kommenden Wahlen ein Block aus rechtskonservativen und religiösen Parteien an der Spitze der israelischen Politik stehen wird. Nach Umfragen des Fernsehkanals 13 würde das sogar dann der Fall sein, wenn der respektierte Ex-Armeechef Gadi Eizenkot in die Politik einsteigt. Einzig eine erneute Allianz aus Gantz und Lapid könnte dem Rechtsblock etwas anhaben. Kanal 13 geht davon aus, dass sie – würde heute gewählt – 25 Mandate einsammeln und damit Yamina überholen könnte.
Oder es kommt völlig anders nach der überraschenden Ankündigung des einstigen Bildungsministers Gideon Saar am Dienstagabend, den Likud zu verlassen und eine eigene Partei (Tikwa Chadascha – Neue Hoffnung) zu gründen. Saar gehörte zum rechten Flügel des Likud, und damit wird sich seine Partei im rechten Spektrum ansiedeln. Nach eigenen Aussagen hat er definitiv das Amt des Premierministers im Blick, um Israel »Einheit und Stabilität« zurückzubringen.
Was Gantz zu Lapids Aufforderung, wieder eine Liste zu bilden, sagte, ist nicht bekannt. Doch was er nach seiner Entscheidung für das Misstrauensvotum äußerte, schon: »Ich hatte keine Illusionen über Netanjahu, sondern kannte seine Bilanz als dauerhafter Vertragsbrecher.« Trotzdem habe er gedacht, das Volk sei wichtiger und der Premierminister würde mit der Aufgabe wachsen. »Ich habe mich getäuscht.«