Jom Haschoa

»Für mich ist es wie ein zweiter Holocaust«

Die jetzigen Qualen seien so schrecklich wie die, die er schon einmal ertragen musste: Michael Kupershtein ist Holocaust-Überlebender – sein Enkel Bar Geisel der Terrororganisation Hamas in Gaza. Trotz seiner fragilen Gesundheit marschiert er am Jom Haschoa den Marsch der Lebenden mit. In der Hoffnung, seinen geliebten Enkel ins Bewusstsein der Menschen zu bringen und ihn bald lebend wiederzusehen.

Der 37. jährliche Marsch der Lebenden findet am Donnerstag zwischen Auschwitz und Birkenau statt und erinnert an die sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden und ehrt die Überlebenden. Dieses Mal markiert den 80. Jahrestag der Befreiung der Vernichtungslager und des Endes des Zweiten Weltkriegs.

Mit dabei sind 80 Überlebende im Alter von 80 bis 97 Jahren und eine Delegation von Israelis an, die kürzlich aus der Hamas-Gefangenschaft in Gaza befreit wurden: Agam Berger, Hagar Brodutch, Chen Goldstein-Almog, Ori Megidish, Almog Meir Jan, Gadi Moses, Raaya Rotem, Eli Sharabi, Keith Siegel und Moran Stella Yanai. Agam Berger wird mit ihrem Großvater Aharon, einem Holocaust-Überlebenden zweiter Generation, marschieren.

Haim Taib: »7. Oktober war brutalster Schlag für Israel«

Die Delegation wird von Haim Taib, Gründer und Präsident der Menomadin Foundation, und dem Vorsitzenden der Zionistischen Weltorganisation (WZO), Yaakov Hagoel angeführt. Sie marschieren unter dem Motto »Nie wieder«.

»Die Schrecken des 7. Oktober waren der brutalste Schlag für Israel seit seiner Gründung und für das jüdische Volk seit dem Holocaust«, erklärte Taib. »Die Parallelen zwischen diesen Gräueltaten und den Ereignissen des 7. Oktober sind nicht zu übersehen, insbesondere angesichts der Tatsache, dass 59 Geiseln noch immer unter unmenschlichen Bedingungen in den Tunneln des Gazastreifens festgehalten werden.«

»In diesem Jahr marschieren wir mit denen, die Auschwitz überlebt haben und mit denen, die Gaza überlebt haben«, sagte Hagoel. Die eine Generation trage eine Nummer auf dem Arm, die andere eine Narbe, die nicht heilen wird. »Und sie alle verbindet eine klare Linie: Wir werden nicht vergessen und wir werden nicht vergeben.«

Michael Kupershtein: »Das unerträgliche Warten auf eine Nachricht über Bar fühlt sich an wie ein Albtraum.«

Auch Angehörige von noch inhaftierten Geiseln und Opfern des Massakers der Hamas sind dabei, darunter auch Familienmitglieder der ermordeten Deutsch-Israelin Shani Louk, und die Großeltern von Bar, Michael und Faina Kupershtein.

Das unerträgliche Warten auf eine Nachricht über Bar, der vor Kurzem in Gaza 23 Jahre alt wurde, fühle sich an wie ein Albtraum, sagte der 84-jährige Kupershtein jetzt in einem Interview im israelischen Radio. »Es ist ein zweiter Holocaust.« Die neue Qual reiße die alten Wunden wieder auf, von denen er dachte, sie seien längst verheilt.

Kupershtein selbst entkam 1941 nur knapp dem Tod, als seine Mutter vor dem Vormarsch der Nazis in der Sowjetunion floh und ihn nur wenige Monate nach seiner Geburt in Taschkent versteckte. 1972 wanderte er mit seiner Frau Faina und ihren beiden Kindern nach Israel aus.

Bar kam nicht zum Feiern - er kam zum Arbeiten

Wo eine weitere unfassbare Tragödie über die Kupershteins hereinbrach: Bar wurde vom Nova-Festival gekidnappt. Er war nicht hingegangen, um zu feiern. Er war dort, um seine Familie zu unterstützen. Nach dem Unfall seines Vaters Tal, ein freiwilliger Sanitäter, hatte der damals erst 17-jährige Bar dessen Nachfolge angetreten. Neben dem Besuch und Abschluss der Oberschule führte er das Falafel-Geschäft, das Tal Kupershtein erst zwei Monate zuvor eröffnet hatte.

Bar zog zu seinen Großeltern, Michael und Faina, um Platz für die Pflegekraft seines Vaters zu schaffen. Seine Eltern und Geschwister leben ganz in der Nähe. Zwischendurch wurde auch Bar Sanitäter, engagierte er sich ehrenamtlich und arbeitete bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, um die Familie zu unterstützten. So auch auf dem Musikfestival. Bis die Terroristen kamen und ein Blutbad anrichteten.

Bar ist auf einem Video der Hamas zu sehen, das kurz nach seiner Entführung aufgenommen wurde, gefesselt an Händen und Füßen und mit einem Seil um den Hals. Seitdem erhielt die Familie keine Neuigkeiten mehr, bis im Februar freigelassene Geiseln, die mit Bar in den Tunneln des Gazastreifens festgehalten worden waren, bestätigten, dass er am Leben sei. Am 5. April veröffentlichte die Hamas ein Propagandavideo, das den jungen Israeli neben einer anderen Geisel zeigt.

»Bar hat die Augen seines Großvaters. Er ist der Einzige, der sie geerbt hat«, erzählt seine Großmutter. »Aber seine Augen haben ihr Licht verloren. Er sieht schrecklich blass und so dünn aus. Ich erkenne sein Gesicht kaum noch wieder.« Unter Tränen sagt sie dann, dass Bar nie das Haus verlassen habe, ohne ihr einen Kuss zum Abschied zu geben. »Ich vermisse ihn so sehr.«

Faina Kupershtein: »Bar hat die Augen seines Großvaters. Er ist der Einzige, der sie geerbt hat. Aber seine Augen haben ihr Licht verloren.«

»Die Regierung sagt, der Krieg müsse weitergehen, wir hätten keine andere Wahl – aber das stimmt nicht«, fügt ihr Mann hinzu. »Alle Geiseln hätten inzwischen freigelassen werden sollen. Doch wir warten immer noch. Nichts ändert sich außer weiteren gefallenen Soldaten. Warum?«.

Bei dem verheerenden Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 ermordeten Hamas-Terroristen mehr als 1200 Menschen in südlichen israelischen Gemeinden und nahmen 251 Geiseln. Von diesen werden 59 noch immer in Gaza festgehalten. 24 von ihnen seien noch am Leben, gaben die israelischen Sicherheitsbehörden an.

Vom Gelände des Konzentrationslagers Auschwitz aus wollen Bars Großeltern Michael und Faina Bars und die Freilassung aller Geiseln aus der Gewalt der Hamas in Gaza fordern. »Den Heimkehrern zuzuhören, wie sie die Tortur der Geiseln beschreiben, ist wie ein zweiter Holocaust für mich. Bar ist erst 23 und steht am Anfang seines Lebens. Ich bin 84 und kämpfe dafür, dass meine Enkel und Urenkel ein besseres Leben führen können. Ich will, dass alle Geiseln nach Hause kommen, damit wir alle unser Leben zurückbekommen.«

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