Glossar

Pru Urwu

Religiöse Begriffe aus der Welt des Judentums

von Rabbiner Avraham Radbil  26.05.2015 14:13 Uhr

Pru Urwu: Das erste Gebot in der Tora fordert dazu auf, Kinder zu bekommen. Foto: Thinkstock

Religiöse Begriffe aus der Welt des Judentums

von Rabbiner Avraham Radbil  26.05.2015 14:13 Uhr

Die Mizwa Pru Urwu – »Seid fruchtbar und mehret euch!« (1. Buch Mose 1,22) – ist das allererste Gebot der Tora. Es wurde der ganzen Menschheit am Anfang gegeben, um die Erde zu füllen. Doch nach den meisten Meinungen hat sich der Kern dieser Mizwa nach der Annahme der Tora und der Gebote am Berg Sinai verändert: Seitdem sind dieser Mizwa nur Juden, genauer genommen jüdische Männer, verpflichtet. Demnach muss also jeder männliche Jude seinen Beitrag zur Vergrößerung des jüdischen Volkes leisten.

Mizwa Im Talmud (Jewamot 61b) wird darüber diskutiert, wann, also nach wie vielen Kindern, diese Mizwa als erfüllt gilt. Nach der Meinung von Beit Schamai, so wie die Gemara ihn erklärt, ist die Mizwa erfüllt, wenn man vier Kinder – zwei Jungen und zwei Mädchen – in die Welt gesetzt hat. Nach Beit Hillel genügen ein Mädchen und ein Junge.

In Jewamot 62b bringt die Gemara jedoch die Meinung von Rabbi Jehoschua. Er sagt, selbst wenn man die Mizwa erfüllt habe, solle man noch weitere Kinder bekommen. Als Beleg dafür zitiert er einen Vers aus Kohelet 11,6: »Am Morgen säe deine Saat, und auch am Abend lass deine Hand nicht ruhen.« Man müsse also Kinder sowohl in jungen als auch in späten Jahren in die Welt setzen. Es ist unklar, ob dieses Gebot ein rabbinisches Gebot ist oder zu Divrej Kabbala gehört, was es den biblischen Mizwot gleichstellen würde.

In Rabbi Jacob ben Aschers Even Haezer (1,5) steht, dass es nicht genug ist, Kinder zu haben, sondern diese Kinder müssten auch selbst Kinder in die Welt setzen. Falls also die Söhne – G’tt behüte – kinderlos stürben, erfüllt auch ihr Vater das Gebot von Pru Urwu nicht.

Kinderlos Wenn man physisch nicht in der Lage ist, Kinder zu zeugen, kann man diese Mizwa nach Meinung einiger halachischer Autoritäten auch erfüllen, indem man Waisenkinder adoptiert und sie jüdisch erzieht (Chochmat Schlomo). Diese Meinung beruht auf der Aussage des Talmuds (Sanhedrin 19b), dass die Tora denjenigen, der die Kinder erzogen hat, so betrachtet, als habe er sie zur Welt gebracht. Das bedeutet allerdings nicht, dass der nichtbiologische Sohn eines Kohens dann selbst zum Kohen wird.

Aus Sicht des Talmuds ist die Mizwa Pru Urwu wichtiger als viele andere Gebote. So darf man zum Beispiel (was sonst streng verboten ist!) eine Torarolle verkaufen, wenn man Geld benötigt, um zu heiraten und eine Familie zu gründen (Megilla 27a). Auch bei einigen anderen, kleineren Vergehen drücken die Rabbinen ein Auge zu, damit die Mizwa Pru Urwu erfüllt werden kann (zum Beispiel Traktat Avoda Zara 13a).

Scheidung Wenn sich ein Ehepaar bewusst dafür entscheidet, keine Kinder zu bekommen, übertritt es ganz klar dieses wichtige Gebot der Tora. Und mehr als das! Wenn eine Frau sich weigert, Kinder zu bekommen, hat ihr Mann das Recht und eventuell sogar die Pflicht, sich von ihr scheiden zu lassen. Die Ketuba (Ehevertrag) und die darin festgelegte Summe, die der Mann im Falle einer »gewöhnlichen« Scheidung ausgezahlt hätte, braucht er in diesem Fall nicht auszuzahlen. Denn man geht davon aus, dass zwei Menschen, die einander heiraten, gemeinsam Kinder haben wollen. Falls die Frau sich nicht daran halten möchte, bricht sie damit den Ehevertrag und hat keinen Anspruch auf die vertraglich festgelegte Summe.

Genauso verhält es sich, wenn die Frau ihrem künftigen Ehemann verheimlicht hat, dass sie nicht in der Lage ist, Kinder zu bekommen. Auch dann ist die Ehe ungültig, da sie unter einer falschen Annahme geschlossen wurde, und der Mann kann sich ohne Get (Scheidebrief) von der Frau trennen.

Das Verständnis dieser Mizwa ist der Ausgangspunkt für viele aktuelle halachische Responsen über Verhütung, künstliche Befruchtung, Leihmutterschaft und etliche andere Themen unserer modernen Gesellschaft.