Drehe und wende sie (die Tora) nach allen Seiten, denn alles ist in ihr enthalten», heißt es in der Mischna. Dies kann bedeuten, dass der Suchende in der Tora auf jede Frage eine Antwort findet. Es meint aber ebenso die zahlreichen Antwortmöglichkeiten, die sich auf eine einzelne Frage ergeben können.
Die über die Jahrhunderte ununterbrochene Diskussion verhinderte die Erstarrung jüdischen Denkens. Sie erschwert es aber, eindeutige Aussagen zu treffen. Intern war die jüdische Debattierkultur ein ideales Instrument, die Religion fortzuentwickeln. Extern sah sich das Judentum oft feindlicher Polemik ausgesetzt, der es mit klaren Positionen zu begegnen galt.
Rambam Im mittelalterlichen Orient griffen muslimische Gelehrte das Judentum mit missionarischem Eifer an. Der Rambam (1135–1204), Maimonides, der einflussreichste jüdische Denker des Mittelalters, strebte die Systematisierung der jüdischen Religion an und schuf Glaubensartikel, die eine apologetische Auseinandersetzung mit den Andersgläubigen ermöglichte. Er fasste die Kernaussagen des Judentums in 13 Glaubensgrundsätzen zusammen, die er in seinem Mischnakommentar zum Traktat Sanhedrin veröffentlichte.
In einer lyrischen Bearbeitung fanden die 13 Glaubensartikel unter dem Namen «Jigdal» Eingang in den Gottesdienst. Der Hymnus ist nach seinen ersten Worten benannt. Ins Deutsche übertragen lauten sie: «Der lebendige Gott werde erhöht und gelobt, Er besteht – seine Existenz wird durch die Zeit nicht beschränkt.»
13 Grundsätze Rambams Grundsätze versuchen nicht, das Judentum erschöpfend zu erklären. Sie umreißen lediglich, was alles mindestens zum jüdischen Glauben gehört. An den Beginn stellt der Rambam die metaphysischen Glaubensannahmen: die Existenz Gottes, seine Einheit, Unkörperlichkeit, Ewigkeit und Gott als alleinigen Adressaten der Verehrung. Darauf folgen die gesetzlichen, das heißt, die auf das Wesen der Tora bezogenen Prinzipien: der Glaube an die Prophetie, an Mosche als den höchsten Propheten, die Akzeptanz der Göttlichkeit der Tora sowie die Ewigkeit und Unveränderlichkeit der Tora.
Zum Abschluss werden endzeitliche Annahmen formuliert: Gottes Wissen von allem Tun der Menschen, die Lehre von Lohn und Strafe nach dem Tod, der Glaube an das Kommen des Messias und die Auferstehung der Toten.
Im Epilog seiner Thesen schreibt Maimonides, dass jeder, der nur einen seiner Grundsätze leugnet, aus der Gemeinschaft Israels ausgeschlossen und an der kommenden Welt keinen Anteil haben wird. Diese scharfe Grenzziehung mag den Zweck verfolgt haben, Islam und Christentum auf Abstand zu halten. So liest sich zum Beispiel der Grundsatz der Unkörperlichkeit Gottes als Absage an Jesus.
Ablehnung Die 13 Grundsätze und damit auch das Jigdal waren allerdings nicht unumstritten. Der einflussreiche Altonaer Rabbiner Jacob Emden (1697–1776) zum Beispiel lehnte es ab. Er meinte, im Jigdal entstünde der Eindruck, das Judentum hätte nur diese 13 Grundsätze, und ein tiefes Torastudium sei überflüssig.
Heute akzeptieren fast alle Juden die Glaubensartikel. Dennoch sind sie keinesfalls mit einem normativen Glaubensbekenntnis, wie es das Christentum kennt, zu vergleichen. Sie fassen lediglich wesentliche Punkte der Glaubenslehre zusammen, die dem Verfasser grundlegend waren. Die Antworten, die das jüdische Volk erhalten wird, wenn es seine Tora in Zukunft dreht und wendet, könnten andere sein.