Offene wie verdeckte Anfeindungen gegen Juden haben auch im 21. Jahrhundert Hochkonjunktur. Dennoch fühlt sich das Leben in der westlichen Welt für heutige Juden nicht mehr wie ein schmerzliches Exil an. In den demokratischen Staaten Europas ist die rechtliche Gleichstellung heute selbstverständlich. Die Charta der EU verbietet die Diskriminierung eines Menschen aufgrund seiner religiösen Überzeugung oder ethnischen Herkunft.
Verbindliche Rechte in einem Land zu besitzen, ist für Juden eine relativ neue Erfahrung. Seit dem späten 17. Jahrhundert sollte das Licht der Aufklärung die langen Schatten des Gottesgnadentums der Monarchen erhellen und Knechte zu Bürgern machen. Mit einiger Verzögerung und manchen Ausnahmen erreichte dieser Prozess auch die Juden Westeuropas und ermöglichte ihnen in Deutschland und Europa ein Jahrhundert des Aufschwungs. Was auf diese verhältnismäßig guten Zeiten folgte, war die fast vollkommene Vernichtung der europäischen Juden.
Willkür Vor der Judenemanzipation im frühen 19. Jahrhundert im Fahrwasser der Französischen Revolution war das Verhältnis der Juden zum Herrscher des Landes, in dem sie lebten, oftmals rechtlich nicht klar geregelt, und wenn doch, gab es für Juden keinerlei Möglichkeit, auf ihrem Recht zu bestehen. Die jüdischen Gemeinden waren auf die Gnade ihres Herrschers angewiesen und somit Objekte seiner Willkür.
Schon der Prophet Jirmejahu richtet sich an die Exilanten in Babylon mit den Worten: »Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und betet für sie zum Ewigen; denn wenn es ihr gut geht, so geht es auch euch gut« (29,7).
An der absurden Situation der Juden, für die verhassten Unterdrücker, denen sie auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren, beten zu müssen, hat sich zwischen dem Beginn des Babylonischen Exils 597 v.d.Z. bis zum Jahr 1914 n.d.Z. nicht viel geändert. So beteten die Juden in Wilna für das Wohl des extrem antisemitischen Zaren Nikolaus II., da sie den grausamen Herrscher weniger fürchteten als den entfesselten Pöbel. Schon die Mischna sagt im Traktat Awot, dass ein Mensch den anderen lebendig verschlingt, wenn die Regierung keine Autorität ausübt.
Sicherheit Die Anfänge des bis ins 20. Jahrhundert gebräuchlichen Standardgebets für den Herrscher des Landes, »HaNoten Teschua«, lassen sich wohl im 15. Jahrhundert verorten. Dort heißt es, G’tt solle den Fürsten des Landes segnen, seine Feinde vernichten und dafür sorgen, dass er es gut mit den Juden meint und für ihre Sicherheit sorgt.
Oftmals galt es, mit den Worten des HaNoten Teschua die feindlich gesinnte Obrigkeit zu beschwichtigen, damit die Gemeinden überleben. Ab dem 19. Jahrhundert fand sich unter den Juden allerdings eine steigende Zahl glühender Verehrer einzelner Monarchen. So betete 1910 die galizische Gemeinde von Jerusalem an der Westmauer für Kaiser Franz Joseph anlässlich seines 80. Geburtstags.
In Deutschland wird heute statt des Noten Teschua das Gebet für den Staat Israel gelesen. Ein Grund dafür mag darin liegen, dass es für Juden schwierig ist, sich tief mit einem Land zu identifizieren, das ihre konsequente Auslöschung betrieb. Ein anderer Grund mag sein, dass die Juden Europas trotz allem in relativer Sicherheit leben, während der jüdische Staat gezwungen ist, sein Existenzrecht mit Waffen zu verteidigen. Israel hat den »Schutz seines Friedens« noch immer weit nötiger als Deutschland. Daher ist es Juden in der Diaspora ein Bedürfnis, die Bitte zu sprechen: »Gib Frieden dem Land und all seinen Bewohnern ungetrübte Freude.«