Asyl

»Meine Pflicht als Mensch«

Asylbewerber und Aktivisten demonstrieren vor der ruandischen Botschaft in Herzlija. Foto: Flash 90

Sie kommen aus allen Bereichen der israelischen Gesellschaft, sind Schoa-Überlebende, Schriftsteller, Akademiker, Piloten, Rabbiner und ganz normale Bürger. Doch in einem sind sie sich einig: Die afrikanischen Flüchtlinge sollen nicht abgeschoben werden. Doch genau das hat die Regierung vor. Ab März sollen viele der etwa 38.000 Afrikaner, die im Land leben, ausgewiesen werden – in ein Drittland, das sie gar nicht aufnehmen will.

Es ist der Plan des Innenministers Arie Deri, so viele von ihnen so schnell wie möglich loszuwerden. Regierungschef Benjamin Netanjahu sekundiert: »Die meisten der Afrikaner in Israel sind gar keine Flüchtlinge.«

Im vergangenen Monat hatte eine Änderung des sogenannten »Gesetzes gegen Eindringlinge« die zwangsweisen Abschiebungen möglich gemacht. Ab März sollen vor allem Eritreer und Sudanesen ausgewiesen werden. Der »Anreiz« der Regierung seien ein kostenloses One-Way-Flugticket und 3500 Dollar in bar. Die Anpassung des Gesetzes ermöglicht es auch, jene, die sich weigern, freiwillig zu gehen, ohne Zeitbegrenzung zu inhaftieren.

Sinai Derzeit leben etwa 38.000 afrikanische Migranten und Asylbewerber im Land, die meisten in den südlichen Vierteln von Tel Aviv. Von ihnen sind nach Angaben des Innenministeriums 72 Prozent aus Eritrea, 20 Prozent sind Sudanesen. Sie kamen in den Jahren 2006 bis 2012 durch den Sinai, als die Grenze zwischen Israel und Ägypten lediglich eine löchrige Absperrung war. Mittlerweile steht eine solide Mauer anstelle des Zaunes, durch die niemand mehr hindurchkommt.

Deri ließ derweil durch sein Büro erklären, dass er zwischen Afrikanern, die nach Israel kamen, um Arbeit zu finden, und Flüchtlingen aus Kriegszonen unterscheiden wolle. Alle, die bis zum 31. Dezember einen Asylantrag gestellt hätten, würden nicht abgeschoben, auch keine Mütter, Kinder und Familien. In einem Knessetausschuss versicherte er am Wochenbeginn zudem, dass ein Drittland die Menschen aufnehmen werde. Er blieb es schuldig, das Land zu nennen, doch es wird vermutet, dass es sich um Ruanda oder Uganda handelt. Beide Länder haben jedoch mehrfach dementiert, ein Abkommen mit Israel zu haben, und erklärt, sie würden niemanden aufnehmen.

Stattdessen berichten immer mehr Afrikaner, die bereits abgeschoben wurden, dass sie in keinem der beiden Länder bleiben durften. Für sie begann mit der Ankunft in Ruanda oder Uganda eine neue Odyssee, die nicht selten mit dem Tod oder der Sklaverei in Libyen endete. Freunde und Bekannte, die noch in Israel sind, berichten von schockierenden Erlebnissen.

Immer mehr Israelis stellen sich gegen den Plan der Regierung. Eine Gruppe von El-Al-Piloten erklärte öffentlich, sie würden sich weigern, Flüchtlinge auszufliegen. Allerdings ist diese Botschaft vor allem symbolisch, denn es sind meist andere Fluglinien, die die Routen nach Afrika bedienen.

36 Schoa-Überlebende riefen Netanjahu auf, »eine historische Entscheidung zu treffen« und die Abschiebungen auszusetzen. »Unter Ihrer Führung hat es sich Israel zum Ziel gesetzt, die Welt an die Lehren aus der Schoa zu erinnern. Deshalb bitten wir: Stoppen Sie dieses Vorhaben! Sie haben die Macht, der Welt zu zeigen, dass der jüdische Staat Leid und Folter von Menschen nicht zulässt, die unter seinem Schutz leben«. Sie forderten ihn auf, »das Jüdische« zu tun, wie der einstige Premier Menachem Begin, der Flüchtlinge aus Vietnam aufnahm und ihnen in Israel Asyl gewährte. »Als Juden haben wir eine besondere Verpflichtung.«

Versteck Viele der Unterzeichner versicherten, dass sie Afrikaner verstecken würden, so wie einige von ihnen selbst von Gerechten versteckt wurden, als die Nazis ihr Leben bedrohten. Veronica Cohen etwa. Sie erklärte im israelischen Fernsehen, dass sie sich stets fragt, was sie selbst im Holocaust unternommen hätte, wenn sie auf der anderen Seite gewesen wäre. »Ich weiß nicht, ob ich das Leben meiner Familie riskiert hätte. Aber hier geht es gar nicht darum, denn unser Leben ist nicht in Gefahr. Und ich fühle, dass es meine Pflicht als Mensch ist.«

Der Rabbiner der Jerusalemer Rambam-Synagoge, Benjamin Lau, schrieb in einem offenen Brief über das Schicksal von 307 Kindern, die ohne Familien aus Darfur und Eritrea kamen: »Sie flohen aus einem Kriegsinferno und sahen, wie ihre Mütter und Väter vor ihren Augen getötet wurden. Israel nahm sie in ihren Jugenddörfern auf und gab ihnen ein neues Leben.« Jetzt seien sie in einer unmöglichen Situation: Ohne Staatsangehörigkeit, ohne Asylantrag können sie sich an niemanden wenden. »Dabei erinnert uns die Tora wieder und wieder daran, dass wir uns anders benehmen müssen, wenn wir an der Macht sind«, schrieb der Rabbi.

Auch die Afrikaner selbst demonstrieren. In der vergangenen Woche protestierten sie in Tel Aviv, vor der Präsidentenresidenz in Jerusalem und der Botschaft von Ruanda in Herzlija.

Janny war dabei. Er ist 33 Jahre alt und aus dem Sudan. Sein Vater und sein Bruder wurden bei Kämpfen in der Heimat getötet, Janny konnte fliehen. Erst nach Kairo, wo er sich einige Jahre mit Hilfsarbeiten über Wasser hielt. »Doch irgendwann kippte die Stimmung in Ägypten dramatisch«, erinnert er sich an einem regnerischen Tag in einem Café im Süden von Tel Aviv. »Mein Arbeitgeber schlug mich täglich, drohte, mich umzubringen, und bezahlte mich nicht mehr.« Über einen Onkel wandte sich der junge Mann an Schlepperbanden, die ihn durch den Sinai nach Israel schleusten. Das war 2010.

zuhause Seit sieben Jahren ist Janny in Tel Aviv. Er spricht fließend Hebräisch, hat sich mit israelischen Kollegen angefreundet und trifft sich privat mit ihnen. Dabei ist es nicht so, dass das Leben hier das reinste Zuckerschlecken sei. Der Sudanese wohnt mit neun anderen jungen Männern in einer Dreizimmerwohnung und arbeitet in zwei Jobs, tagsüber auf dem Markt, abends als Küchenhilfe in einem Restaurant. Für Liebe sei weder Zeit noch Platz, sagt er leise. Jeden Monat schickt er das gesparte Geld an seine Mutter und drei Schwestern im Sudan. Janny sagt, dass er trotzdem gern in Israel ist und die Menschen hier schätzt. »Es ist mein Zuhause geworden, in dem ich nie um mein Leben fürchten musste wie zuvor in allen anderen Ländern – und dafür bin ich dankbar.«

Dann senkt Janny den Kopf: »Zumindest war es bislang so.« Ein Asylantrag, den er vor Jahren gestellt hat, ist noch im-
mer unbearbeitet. »Ich passe genau in die Kategorie: alleinstehender Mann aus Afrika ohne Familie in Israel.« Seit der Ankündigung der Abschiebungen sei dieses beklemmende Gefühl wieder da. Er erzählt: »Ich habe einen Freund, der vor etwa einem Jahr freiwillig Israel verlassen hat, weil ihm die Regierung 5000 Dollar geboten hat, wenn er verschwindet. Und jetzt ist er tatsächlich verschwunden.« Janny wisse nur, dass er in Uganda angekommen war und man ihn noch in der ersten Nacht ausgeraubt hat. Danach habe er nie wieder etwas von seinem Freund gehört. Er will nicht dasselbe Schicksal erleiden. Doch wie es für ihn weitergeht, darauf hat Janny keine Antwort. Nur ein stilles Kopfschütteln.

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