Partisanen

Zweierlei Maß

von Robert B. Fishman

»Juden raus« steht auf Deutsch neben Hakenkreuzen an der Fassade des jüdischen Gemeindehauses in Litauens Hauptstadt Vilnius. Unbekannte haben das Gebäude just an dem Tag (9. August) beschmiert, an dem Juden in aller Welt der Zerstörung des Tempels gedenken. Bereits am litauischen Unabhängigkeitstag im März zogen »Juden raus« grölende Neonazis unbehelligt durch Vilnius. Gleichzeitig ermittelt die litauische Staatsanwaltschaft gegen ehemalige Partisanen der Einheit »Vilnius«, die auf sowjetischer Seite gegen die Nazis gekämpft haben. Etwa 300 von ihnen sollen im Januar 1944 im Dorf Kaniûkai 38 litauische Zivilisten erschossen haben.
Die 86-jährige Ghettoüberlebende Fania Branstowsky erhielt Anfang Mai Besuch von Beamten, die sie zu ihrer Rolle bei den Partisanen während des Zweiten Weltkriegs befragen wollten. Rachel Margolis, die dem Naziterror ebenfalls knapp entkommen war und in den vergangenen Jahren jeden Sommer in Vilnius verbrachte, um Einheimische und Besucher über das Schicksal der Juden der Stadt zu informieren, traute sich 2008 wegen der Ermittlungen nicht mehr nach Litauen. 2005 hatte sie der damalige litauische Premierminister noch für ihren Einsatz gegen die Nazi-Besatzer ausgezeichnet.
Nach Protesten des Simon-Wiesenthal-Zentrums und anderer versprach Staatspräsident Valdas Adamkus Anfang August, dass die Ermittlungen eingestellt würden. Die Generalstaatsanwaltschaft versicherte derweil, dass es sich um streng rechtsstaatliche Ermittlungen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Artikel 100 des litauischen Strafgesetzbuches handle. Unter den vielen Personen, die man dabei befragen wolle, seien nur drei Juden. Diese wolle man nur als Zeugen vernehmen, Beschuldigte gäbe es in diesem Verfahren bisher nicht. Ermittelt werde völlig unabhängig von Nationalität und Herkunft. Die Generalstaatsanwaltschaft verweist auf ihre Statistik. Diese nennt drei Verfahren wegen Beteiligung am Völkermord an den litauischen Juden, die die Behörde seit 1990 den Gerichten übergeben habe. Vier der 25 seit 1990 wegen Kriegsverbrechen eingeleiteten Ermittlungsverfahren richteten sich gegen ehemalige sowjetische Partisanen.
Mehrere litauische Zeitungen und deutsche Neonazi-Seiten im Internet nutzen die Ermittlungen für hämische Berichte über »die Juden«, die, obwohl selbst Kriegsverbrecher, sich als Opfer darstellten. In Deutschland berichtete unter anderem die Zeitung Junge Freiheit über ein angebliches Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Leiter der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, Yitzhak Arad. In Litauen hieß es, dass Arad lediglich als Zeuge vernommen werden sollte. »Ein späteres Ermittlungsverfahren gegen ihn ist aber nicht ausgeschlossen«, sagte eine Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft am Montag. Arad bestreitet die Vorwürfe. Er habe auch nicht, wie behauptet, für den sowjetischen Geheimdienst NKWD gearbeitet.
»Politischen Druck« vermuten mehrere deutsche Historiker hinter den Ermittlungen. In einem offenen Brief wollen sie die Kommission der Europäischen Union auffordern, »ihren Entschluss zu überdenken, Vilnius zur Kulturhauptstadt 2009 zu erklären«. Einem Land, in dem antisemitische Stimmungsmache derart breiten Raum einnehme, stehe eine solche Auszeichnung nicht zu. »Medien und Justiz bedienen sich dabei des gleichen Stereotyps, das in den Jahren der deutschen Besatzung der massenhaften Beteiligung von Litauern am Massenmord an der jüdischen Bevölkerung zugrunde lag: Juden werden mit Kommunismus, dem sowjetischen System und sowjetischen Partisanen identifiziert. Demgegenüber wird gegen die litauischen Kollaborateure der deutschen Besatzer, die für die Ermordung von mehr als 200.000 Juden in den Jahren 1941 bis 1944 mitverantwortlich sind, nicht ermittelt«, heißt es in dem Offenen Brief der Erstunterzeichnerinnen Gudrun Schroeter, Susanne Heim, Dagi Knellessen und Franziska Bruder.
Efraim Zuroff vom Simon-Wiesenthal- Zentrum in Israel bestätigt diesen Eindruck: »Wir haben den litauischen Behörden sehr viele Informationen zur Verfügung gestellt. Trotzdem ermitteln sie (ge- gen mutmaßliche litauische Kriegsverbrecher, d. Red.) erstaunlich langsam«, sagte er der israelischen Zeitung Haaretz. Die Ermittlungen gegen Yitzak Arad und andere ehemalige Partisanen nennt Zuroff eine »Unverschämtheit«. Kurz zuvor hatte ein Gericht die Inhaftierung des wegen seiner Beteiligung am Holocaust 2006 schuldig gesprochenen Algimantas Mykolas Dailide abgelehnt. Von dem Nazi-Kollaborateur gehe keine Gefahr für die Gesellschaft aus.
»Vilnius hat den Titel Europäische Kulturhauptstadt nicht verdient«, urteilt Andrew Baker, Direktor für internationale jüdische Angelegenheiten beim American Jewish Committee (JCC) mit Blick auf die Ermittlungsverfahren und die schleppende Rückgabe ehemals jüdischen Besitzes, der von Nazis und Sowjets enteignet wurde.
Angesichts der Vorgänge in Litauen findet sich auf den Internetseiten der Cleveland Jewish News folgender Vorschlag: Vilnius möge statt zur Europäischen Kulturhauptstadt zur »Hauptstadt von Rassismus, Antisemitismus und Holocaustleugnung in Europa ernannt werden«.
Tatsächlich stellt sich das offizielle Litauen kaum den Schattenseiten der eigenen Geschichte. Das überall ausgeschilderte Genozidmuseum in bester Innenstadt- lage von Vilnius präsentiert detailreich die Verbrechen der Sowjets in Litauen. Über die Nazi-Besatzung von 1941–’44 und den Massenmord an den Juden im Lande erfahren die Besucher so gut wie nichts. Das kleine jüdische Holocaustmuseum fristet ein Schattendasein in einem Park am Rande der Innenstadt.

USA

Israelfeindliche Proteste an der Columbia University

Die Aktivisten demonstrieren gegen die Abschiebung des Studenten Machmud Chalil, dem die Regierung eine Unterstützung der Hamas vorwirft

 08.05.2025

Gastbeiträge

Eine besondere Beziehung

Der 12. Mai 1965 markiert den Beginn des offiziellen deutsch-israelischen Verhältnisses. Was bedeutet die Verbindung zwischen Bundesrepublik und Israel, heute und vor 60 Jahren? Antworten deutscher Spitzenpolitiker

 07.05.2025

Eurovision Song Contest

Israelische Sängerin Yuval Raphael wird von der Schweiz nicht extra geschützt

Die Basler Sicherheitsbehörden wissen um die angespannte Lage, das Sicherheitsrisiko in der Schweiz ist hoch

von Nicole Dreyfus  06.05.2025

Berlin

Auswärtiges Amt gegen dauerhafte Besatzung des Gazastreifens

Das Auswärtige Amt in Berlin reagiert besorgt und kritisiert abermals Israel. Gaza gehöre den Palästinensern. Die weiterhin von der Hamas gehaltenen Geiseln kommen in der Erklärung offenbar nicht vor

 06.05.2025 Aktualisiert

Berlin

Sarah Wedl-Wilson neue Berliner Kultursenatorin

Die parteilose 56-Jährige übernimmt das Amt von Joe Chialo (CDU), der am Freitag wegen der Sparpolitik des Berliner Senats zurückgetreten war

 05.05.2025

Berlin

AfD klagt gegen Einstufung des BfV

Die rechtsextremistische Partei will nicht als solche eingestuft sein. Die Klage ist keine Überraschung

 05.05.2025

Kulturkolumne

Als Phil mich fütterte

Her mit den 90 Prozent!

von Sophie Albers Ben Chamo  04.05.2025

Nahost

Huthi schießen erneut Raketen auf Israel ab

Zweimal heulten im Norden des Landes am Freitag die Sirenen. Im Kibbuz Mishmar Ha’emek verursachen Trümmerteile Schäden

 02.05.2025

Gedenkstätten

70 Länder auf neuem Gedenkstein in Neuengamme

Zum 80. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung der Häftlinge wird das Gedenkzeichen am Sonntag eingeweiht

 02.05.2025