von Rabbiner Tom Kucera
Der Tora-Abschnitt Nizawim erzählt keine Geschichte, sondern er wendet sich direkt an uns: Atem nizawim hajom – ihr steht heute da, kulchem – alle, vor dem Ewigen, eurem Gott (5. Buch Moses 29,9). Ihr alle – nicht nur die Stammesführer, die Ältesten, die Männer, sondern auch Frauen, Kinder, jede Person von jedem Beruf, vom Holzhauer bis zum Wasserschöpfer, wie die Tora sagt. Wir sind alle gleich, wir haben keine Hierarchie.
Dann kommt ein ungewöhnlicher Satz: »... ich schließe ihn (den Bund) mit denen, die zugegen sind und mit allen, die nicht zugegen sind«. Der Midrasch interpretiert diesen Satz mystisch: Die Seelen aller Juden standen am Berg Sinai. Dies ist sicher ermutigend, denn wir spüren leidenschaftlich die jüdische Kontinuität. Trotzdem trägt es nicht sehr viel bei zur Problemlösung vieler Gemeinden, in denen sich nur eine kleine Gruppe engagierter Leute um alles kümmert. Die Wenigen laufen dann Gefahr, müde zu werden. Obwohl wir individuell dazugehören (atem nizawim hajom), müssen wir auf das Ganze schauen (kulchem). Jede Person einzeln und doch als eine Gemeinde.
Sowohl die Gestaltpsychologie als auch die Naturwissenschaften haben den Begriff Übersummenhaftigkeit geprägt. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Genauer gesagt: Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile. Die Musik verdeutlicht es sehr gut: Wird eine Melodie in einzelne Töne zerlegt, bricht der Eindruck zusammen. Eine Melodie, die uns zum Lä- cheln, Tanzen, Weinen oder zum Nachdenken bringt, entsteht erst durch die Reihenfolge, in der die Töne erklingen. Eine Melodie ist mehr als die Summe der einzelnen Töne.
Auch jede Gemeinde ist ein Beispiel der Übersummenhaftigkeit. Sie ist größer als die Summe ihrer Mitglieder, weil die Stärken und Begabungen jeder Person in einem Kollektiv, einer Gemeinde, deutlicher werden. In einer Jugendgruppe habe ich im Unterricht einen Jungen gefragt: »Verstehst du es?« Er sagte: »Nein, aber ein anderer versteht es, und zusammen sind wir stark.«
Es ist wahr. Die Gemeinde soll sich ergänzen, um die bekannte Melodie hervorzubringen, ohne Angst zu haben, dass es langweilig wird, wenn alle das Gleiche an- streben. Betonung und Lautstärke sind doch persönliche Ausdrücke des Chores und des Dirigenten. Die Melodie kann darüber hinaus höher oder tiefer gesungen werden. An ihrer Eigenschaft ändert sich nichts, es wird nur individuell gestaltet. Rabbiner Abraham Geiger (1810-1874) schrieb 1860 in seiner Programmschrift »Notwendigkeit und Maß einer Reform des jüdischen Gottesdienstes«: »Jede einzelne jüdische Gemeinde ist ein Glied der gesamten Judenheit, sie muss in ihren Einrichtungen das Ganze in sich darstellen, wenn auch mit einzelnen, ihren Individualitäten angemessenen Nuanzierungen.«
Wenn alle so dastehen, wie in der Tora beschrieben, fragen wir uns: Wozu? Um den Bund neu zu bestätigen, ähnlich wie in einer Beziehung, wo ich einerseits Verantwortung und Verpflichtung übernehme, andererseits Freude und Zufriedenheit ausdrücke. Ein Gedicht sagt: Love us as much as we will let you. We are your Jews. We will not forget you.
Wie können wir den Bund verstehen, damit er unsere gegenwärtige jüdische Zivilisation mit einschließt? Die Tradition spricht von vier Arten des Bundes. Der erste Bund ist der des Regenbogens. Er ist universalistisch und durch Noach symbolisiert. Der Talmud spricht von den Anweisungen Noachs, die alle Gerechten dieser Welt befolgen. Nach der Sintflut verspricht Gott, die Erde nie wieder zu zerstören. Der Regenbogen erscheint als Zeichen dieses Bundes. Daran werden wir im Segensspruch erinnert, der beim Erblicken des Regenbogens gesagt wird: Du gedenkst des Bundes und hältst ihn treu nach deinem Wort.
Der zweite Bund ist durch Awraham symbolisiert, durch die Britmila. Im Birkat HaMason danken wir al beritcha schechatamta biwssarenu, für den Bund, den du in unserem Fleisch eingeschrieben hast. Diese Version kann egalitär ausgedehnt werden: Al beritcha schechatamta biwssarenu ubilwawenu, für den Bund, den du in unserem Fleisch und in unserem Herzen eingeschrieben hast.
Der dritte Bund ist der des Schabbats. Im Lied »Weschamru« werden wir daran erinnert, den Schabbat für alle Generationen zu machen (la’assot et haschabbat ledorotam), weil er ein ewiger Bund (berit olam) ist. »Nicht die Juden haben den Schabbat gehalten, sondern der Schabbat hat die Juden gehalten«, schrieb Achad Ha’am (1856-1927).
Der vierte Bund ist der der Tora, mit allen Höhen und Tiefen, mit allen intellektuellen und emotionellen Bemühungen. Die Parascha behauptet, die Tora sei nicht hoch im Himmel und auch nicht tief unten. Mit der Tora ist es wie in einer Beziehung. Du verstehst es nicht immer, du hast manchmal Schwierigeiten damit, doch du lernst, damit umzugehen, weil sie sehr nahe an dir ist (ki karow elecha), in deinem Mund und in deinem Herzen (beficha uwilwawecha).
Die Bundesbestätigung auf der individuellen Ebene während der bevorstehenden Hohen Feiertage sollte dann auf der Gemeindeebene die Übersummenhaftigkeit bewirken – ein Flüstern der Transzendenz.
Der Autor ist Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Shalom München.
Nizawim-Wajelech:
5. Buch Moses 29,9 bis 31,30