kultur

Wodka und Piroschki

Die kleine Bäckerei verkauft fast nur dunkles russisches Brot. Im Fernsehen an der Wand läuft eine russische Seifenoper. »Priviet«, begrüßt die blasse, blonde und blauäugige Verkäuferin eine Kundin, die auf Russisch ihre Bestellung aufgibt. In der Konditorei nebenan verkauft Vicki Piroschki oder Pitschenia, süße Teigröllchen mit Walnussfüllung. Der Feinkostladen auf der anderen Seite bietet seinen Kunden russische Butter, Wodka und Schweinefleisch. Auf der Theke liegen Schokoriegel in funkelndem Silberpapier. Die kyrillischen Buchstaben auf der Verpackung verheißen russische Kirschen im süßen Kern.
Willkommen in Israels wichtigster Hafenstadt Aschdod. Nur Geografen würden behaupten, dass die Küstenstadt 40 Kilometer südlich von Tel Aviv in Israel liegt. Kulturell befindet sich Aschdod längst fest in russischer Hand. Vergangene Woche war die Rockgruppe Bivda aus Russland auf Tournee. Hunderte Jugendliche füllten einen Club und grölten fröhlich die neuen Schlager mit. Unweit davon tanzen ältere Paare zu gediegener Musik Walzer und Rumba. »Die Russen haben sich hier besser eingelebt als in jedem anderen Land der Welt«, sagt Wladimir Gerschow, lange Zeit der Verantwortliche für die Aufnahme der Neueinwanderer und zehn Jahre lang stellvertretender Bürgermeister Aschdods. Für ihn ist seine Stadt Symbol für die erfolgreiche Integration seiner Landsleute.

rückkehrrecht Mehr als eine Million Menschen wanderten nach dem Mauerfall vor 20 Jahren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel aus. Ein liberales Einwanderergesetz, das »Rückkehrrecht«, gewährt jedem Nachkommen eines Juden bis zur dritten Generation samt Partnern umgehend die israelische Staatsbürgerschaft. Der Staat bietet großzügige Hilfen, um den Umzug zu erleichtern. »Die russischen Einwanderer haben unser Land gerettet und sind eines der größten Wunder, die unserem Staat widerfahren sind«, sagte Premierminister Benjamin Netanjahu vor einem Monat anlässlich des 20. Jahrestages der großen Einwanderungswelle. Jeder siebte Staatsbürger Israels stammt inzwischen aus der einstigen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), und jeder fünfte Soldat. Eingewanderte Leistungssportler vertreten Israel in internationalen Wettkämpfen. Alex Averbuch wurde in Sibirien geboren, dann errang er für Israel Goldmedaillen im Stabhochsprung. Kein Wunder, dass 68 Prozent der Alteingesessenen ihre neuen Mitbürger positiv beurteilen.
»Die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion haben Israel in die Moderne katapultiert«, schwärmte Immigrationsministerin Sofa Landwer. Die Russen waren sehr gebildet, 70 Prozent besaßen einen Hochschulabschluss. So bescherte die Alija, wie die Einwanderung in Israel genannt wird, dem Land zusätzlich 23.000 Ärzte, 25.000 Krankenschwestern, 108.000 Ingenieure, 21.000 Künstler und 50.000 Lehrer. Jeder vierte Dozent an Israels Universitäten stammt aus Russland, in den Naturwissenschaften ist deren Anteil sogar noch höher. Aschdods andalusisches Orchester spielt zwar hauptsächlich orientalische Musik, aber zwei Drittel der Musiker stammen aus der Ex-Sowjetunion.
Wohl in keinem anderen Bereich ist der Einfluss der Einwanderer deutlicher spürbar als in der Politik. Das israelische Institut für Demokratieforschung bemängelt zwar, dass die Einwanderer sich nicht von alten, autoritären Denkmustern getrennt hätten. »Sie wollen starke Führer oder Experten anstatt gewählte Volksvertreter«, beklagt der neue Bericht des Instituts. Dennoch beteiligen sich die Russen in hohen Prozentzahlen an den Wahlen und lösten damit einen Rechtsruck aus. »Die Russen brachten eine für Israel einzigartige Mischung mit: Sie sind einerseits nationalistisch, gleichzeitig aber auch sehr antireligiös«, sagt Lia Shemtov, die selber der nationalistischen, antireligiösen Partei des amtierenden Außenministers Avigdor Lieberman angehört.
Die Integration dieser gewaltigen Menschenmasse verlief nicht ohne Spannungen: »Israel war zwar gut auf eine Masseneinwanderung vorbereitet. Aber man rech-
nete mit 100.000 Menschen, nicht mit einer Million«, sagt Shemtov, die als Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für Immigration amtiert. In Aschdod wuchs die Bevölkerung in wenigen Jahren von 80.000 auf heute 210.000 an. Die Hafenstadt nahm die größte Zahl russischer Einwanderer auf. 4-Zimmer-Wohnungen wurden kurzerhand in kleine 2-Zimmer-Wohnungen umfunktioniert, in denen ganze Familien untergebracht wurden. Zwar wohnen heute drei Viertel der Einwanderer in einer Eigentumswohnung, doch meist teilen Großfamilien sich dieselbe Immobilie. Auf dem Arbeitsmarkt wurde es eng. »Nur 20 Prozent der Einwanderer haben bis heute eine Anstellung gefunden, die ihrer Ausbildung entspricht. Die meisten mussten niedere Arbeiten annehmen«, sagt Professor Elieser Leschem von der Hebräischen Universität in Jerusalem. Nur wenige haben heute die gleiche soziale Sicherheit wie alteingesessene Israelis. Viele Einwanderer glauben, in Israel einer niedrigeren Gesellschaftsschicht anzugehören als in der UdSSR.

echte israelis Die ersten russischen Einwanderer wollten sich noch völlig assimilieren. Shemtov sprach mit ihren Kindern kein Wort Russisch: »Ich wollte, dass sie echte Israelis werden.« Ihre große Tochter hat ein paar Brocken Russisch von der Großmutter aufgeschnappt, ihr kleiner Sohn versteht kein Wort. »Heute denke ich, dass ich einen Fehler gemacht habe«, sagt Shemtov. Je größer die Gemeinde der Russen in Israel wurde, desto geringer der Druck, sich zu assimilieren. Die zweite Generation kehrt zu ihren russischen Wurzeln zurück und ist stolz auf sie. Heute verkaufen im ganzen Land rund 200 Buchläden russische Literatur. Jedes Jahr werden 300 russische Buchtitel veröffentlicht.
Besonders die Älteren verbleiben in einem Ghetto. Das israelische Kabelfernsehen bietet vier russische Kanäle, nur 14 Prozent der ehemaligen Russen sehen hebräische Sender. Selbst der ansonsten so Israel-begeisterte Gerschow hat in seinem Büro ein grünes Landschaftsbild aufgehängt. »Das ist ein Tal nahe meiner Geburtsstadt Tuabse. Ich vermisse die grüne Natur«, sagt Gerschow. Trotz vieler Probleme, drei Kriegen und einer Intifada sind die meisten Russen geblieben. Nur acht Prozent der Einwanderer haben Israel den Rücken gekehrt: »Hier fühlen wir uns richtig zu Hause. Spätestens nach zwei Wochen wollen alle aus Russland wieder herkommen«, lacht Wladimir Gerschow.

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