rollentausch

Was Oleg von Benjamin lernt

Benjamin wirft seine Schultasche in die Ecke. Heute kommt er etwas unzufrieden aus der Schule. Sein Aufsatz über den Schabbat ist nicht so gut benotet worden, wie er sich das gewünscht hat. Warum nur, fragt er seinen Vater Oleg. Doch der schüttelt den Kopf. Er weiß es nicht. Aber gerade hat er etwas Zeit und schlägt seinem Elfjährigen vor, doch mal zu erzählen, was er so geschrieben hat. Und Benjamin beginnt zu erzählen. Immer wieder fragt Vater Oleg nach, was das und jenes bedeutet. Am Ende sind beide klüger. Benjamin weiß, warum er nur die Zwei minus bekommen hat. Und Oleg hat eine ganze Menge über den Schabbat hinzugelernt.
Für viele der Zuwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion sind nicht nur Sprache und Umgebung neu und ungewohnt wenn sie nach Deutschland kommen, auch das, was das Judentum ausmacht, ist ihnen weitgehend unbekannt. Und so lernen Vater und Mutter oft erst von ihren den jüdischen Kindergarten, den Religionsunterricht oder die Schule besuchenden Kindern, wie man beispielsweise den Höhepunkt der Woche feiert.
Man müsse sich immer wieder vergegenwärtigen, warum viele der aus der ehemaligen Sowjetunion zugewanderten Juden so viel Nachholbedarf in allen Fragen rund ums Judentum haben, betont Sibylle Stoler, Leiterin einer der beiden in Hamburg existierenden Josef-Carlebach-Schulen: »Wenn man die jüdischen Ge-
bräuche aus Angst vor Repressalien nur versteckt praktizieren kann, gibt man sie gerade an die Kinder aus Sicherheitsgründen natürlich nicht so einfach weiter.«

nachholbedarf Stoler berichtet von einem nichtrussischen jüdischen Ehepaar. »Sie kommt aus der Türkei, und hat die ersten Lebensjahre dort bei der Oma verbracht, wo sie das Judentum kennenlernte. Er stammt aus Hamburg, beide sind zwar keine Gemeindemitglieder – aber möchten, dass ihre Kinder nun jüdisch erzogen werden. Sie würde am liebsten mit in die Schule kommen, weil sie das, was sie in der Türkei gelernt hat, vertiefen möchte.«
Bei den Zuwanderern aus den russischsprachigen Ländern sei die Situation un-
gleich schwieriger, weil kaum Grundwissen vorhanden ist, auf dem aufgebaut werden kann. Und weil nur wenig Zeit vorhanden sei, sich mit dem Judentum zu beschäftigen: »Man muss natürlich bedenken, dass andere Prioritäten gesetzt werden. Und die lauten: Runter von der Sozialhilfe und auf eigenen Beinen stehen, auch um den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.« Da häufig ihre eigenen Berufsabschlüsse in Deutschland nicht anerkannt werden, bedeute dies für die Eltern selbst: »Lernen, lernen, lernen, oft bis mitten in der Nacht, weil die Prüfungen natürlich in der fremden Sprache Deutsch stattfinden.«
Dabei legten die Eltern trotzdem »sehr viel Wert darauf, dass die Kinder Wissen über das Judentum vermittelt bekommen. Sie selbst wissen zwar theoretisch, wie man zum Beispiel Schabbat feiert, aber es fehlt dann doch oft an der praktischen Ausübung, sie trauen sich das einfach nicht zu.« Ein guter Ansatz könnte es daher sein, Eltern und Kindern gemeinsam zu Feiertagen die Gebete und Handlungen zu erklären, »denn die Erziehung in Russland ist oft patriarchalischer als hier, sich von den Kindern etwas zeigen zu lassen, passt vielleicht dann nicht immer so ganz ins Weltbild«, gibt Stoler zu bedenken.

Pionierarbeit Sie setze »auf die nächste Generation, die zum Beispiel jede Woche den Schabbat mitgemacht hat. »Man muss schon sehen, dass wir hier teilweise Pionierarbeit leisten,« fügt die Pädagogin hinzu.
An manche Eltern komme man »nicht so einfach heran, weil sie schon so viel mit Beruf und Fortbildung beschäftigt sind«, sagt auch Sara-Ruth Schuman von der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg. Auch wenn die meisten Zuwanderer »nicht traditionell jüdisch gelebt haben«, legten sie aber doch meist Wert darauf, dass ihre Kinder Bar- und Batmizwa feiern, berichtet Schuman. Und da sei es eine gute Möglichkeit, dass die Eltern über ihre Kinder Wissen vermittelt bekommen, »und der Schabbat auf diese Weise ins tägliche Leben mitgenommen wird.« Geduld sei wichtig, fügt sie hinzu, und man müsse »die Familien immer wieder ermuntern, wenigstens die kleinen Dinge zu tun, die das Judentum ausmachen. Ob Brotsegen oder Händewaschen, die gehören dazu, und Kinder be-
greifen das schnell.« Der erhobene Zeigefinger sei allerdings fehl am Platz. »Die Freude am Lernen muss sein, sonst verlieren wir sie. Wenn wir das jüdische Leben als Gemeinde glaubhaft leben, haben wir eine Chance, die Leute hineinzuholen.«
Generell, so Schuman, hinke man bei der Vermittlung des Judentums für die russischsprachigen Gemeindemitglieder ein bisschen hinterher. »Als die ersten Zuwanderer kamen, waren unsere Erwartungen wohl zu hoch, denn wir konnten uns ja alle kaum vorstellen, was 78 Jahre Religionsverbot für Auswirkungen hatten.« Die Lernprogramme müssten deswegen noch sehr lange aufrechterhalten werden.
»Wir dürfen, wenn wir die Leute erreichen wollen, nicht bestimmen, was das Ergebnis sein soll«, plädiert auch Rabbinerin Gesa Ederberg für ein behutsames Heranführen der Zuwanderer ans Judentum. Vielmehr sei es wichtig, »die Familien auf einen eigenen Weg des Lernens und Ausprobierens einzuladen, den sie in ihrem eigenen Tempo gehen können, im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten.«

unterstützung Ein besonderes Augenmerk sollte auf der Einbeziehung der Großeltern liegen, nicht nur, weil Oma und Opa meist bei der Erziehung helfen, sondern auch, weil sie in ihrer Kinderzeit oft noch jüdisch gelebt haben und auf dem damals Gelernten aufbauen können. Ein Großvater habe ihr einmal gesagt: »Du wirst es zwar nicht mehr schaffen, aus mir einen religiösen Menschen zu machen, aber ich hoffe es sehr, dass du es bei meinen Enkeln schaffen wirst«, berichtet Ederberg.
Natürlich sei es auch »eine Schwierigkeit, wenn die Kinder mehr wissen als ihre Eltern«, umso wichtiger sei es, die Eltern nicht zu beschämen, »sondern die Freude an der Sache zu wecken«. Denn auch wenn die Eltern vielleicht inhaltlich wenig interessiert seien, »legen sie genug Wert darauf, ihre Kinder in eine jüdische Bildungseinrichtung zu schicken, und darauf kann man aufbauen. Ganz wichtig sind gemeinsame Erfahrungen, indem man zum Beispiel die Feiertage in Schule oder Kindergarten gemeinsam begeht und diese Institutionen als Ort für die Familienbildung nutzt.«
Den nächsten Aufsatz über Tischa be-Aw hat Benjamin mit seinem Vater zu-
sammen geschrieben. Er hat ihm von diesem Tag erzählt und Oleg hat Fragen ge-
stellt. Inzwischen haben sie beschlossen, ihn in diesem Jahr gemeinsam zu begehen und am 30. Juli, dem 9. Aw auch zu fasten.

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