Drogen

War Moses bekifft?

von Detlef David Kauschke

»Moses war gedopt«, ist sich die Süddeutsche Zeitung sicher. »Moses’ brennender Dornbusch: Eine Drogenvision?«, fragt der Wiener Standard. »Stand Moses unter Drogeneinfluss?«, will die Welt wissen.
Anlass für diese Schlagzeilen der vergangenen Woche war ein in der März-Ausgabe des britischen Magazins Time and Mind veröffentlichter Artikel von Benny Shanon vom Psychologischen Institut der Hebräischen Universität in Jerusalem. Darin geht der israelische Professor der Frage nach, ob Moses vielleicht einige göttliche Erfahrungen unter Drogeneinfluss gemacht hat.
Shanon ist Jude, wenn auch kein strenggläubiger. Er nennt es eine »spekulative Hypothese«, dass Moses und das biblische Volk »bewusstseinverändernde Halluzinogene« benutzten. Und dass diese Substanzen damals eine wichtige Rolle bei den religiösen Riten der Israeliten gespielt haben könnten.
Als Beispiel erwähnt er unter anderem eine Stelle im 2. Buch Moses (20,15): »Und das ganze Volk sah den Donnerschall und die Flammen und den Posaunenschall und den rauchenden Berg.«
Das Volk sah, was man sonst nur hören konnte. Bibelkommentatoren, wie Raschi und Ibn Ezra, sind der Meinung, dass das »Sehen von Tönen« ein wundersames und übernatürliches Ereignis ist. Der Sehsinn lässt das Wahrgenommene als real und absolut erscheinen. Sehen ist Glauben. Und für die Bnei Israel, die Kinder Israels, seien eben die Mizwot, die biblischen Gebote, so real und absolut gewesen, als ob sie sie gesehen hätten. In der Kabbala, der mystischen Lehre des Judentums, wird zudem erklärt, dass am Berg Sinai alle Sinne und physischen Dimensionen vereint werden mussten, damit die göttliche Botschaft überhaupt wahrgenommen werden konnte.
Benny Shanon hingegen glaubt nicht an ein übernatürliches Ereignis. Er selbst hat bei religiösen Zeremonien im Amazonas-Regenwald mit pflanzlichen Drogen experimentiert. Vor 15 Jahren kam er dort erstmals mit Ayahuasca, einem berauschenden Cocktail zweier pflanzlicher Substanzen, in Kontakt – und probierte ihn auch selbst aus. »Dabei hatte ich Visionen, die religiös-spirituelle Bedeutung hatten.« Ayahuasca löst Halluzinationen aus. Konsumenten dieser Droge berichteten ihm, dass sie zu neuen Ebenen des Bewusstseins vorge-
stoßen seien. Mehrere Jahre beschäftigte er sich wissenschaftlich mit der Wirkung dieses südamerikanischen Pflanzenmixes und lernte dabei, »verschiedene Aspekte der jüdischen Tradition aus einer neuen Perspektive zu sehen«.
Die Substanz, die gewisse Völker noch heute bei ihren Riten einnehmen, ist derjenigen ähnlich, die aus der Rinde des Akazienbaums und einer weiteren Buschpflanze (Peganum harmala) gewonnen wird. Der Akazienbaum ist in der Tora häufig erwähnt. Und von Akazien (hebr.: Schittim) ist auch im Talmud (Gittin 69b) in medizinischem Zusammenhang die Rede. Zudem wird dort (Sanhedrin 106a) erläutert, dass der Name »Schittim« von »Schtut« (Unsinn) abgeleitet wird. Könnte das ein Hinweis auf die bewusstseinsverändernde Wirkung sein, die diese Pflanze hat? Wenn in der Tora vom »Sehen von Tönen« berichtet wird, könnte das »auf die Einnahme von Akazien-Substanzen zurückzuführen sein«, sagt der Psychologe. Ähnlich, als Moses seine erste Begegnung mit Gott an einem brennenden Dornbusch hatte (2. Buch Moses 3,4). Oder er den Ewigen als einziger Mensch direkt sehen durfte, aber nur von hinten (»Du vermagst nicht, mein Angesicht zu schauen«, 2. Buch Moses 33,20). Dass Personen ohne Gesicht wahrgenommen werden oder auch eine Art göttliche Begegnung empfinden, sei eine häufige Erscheinung beim Ayahuasca-Konsum, meint Shanon. Es gäbe zahlreiche Parallelen zwischen den drogenbedingten Er-
fahrungen und der biblischen Erzählung. Wie in einem Puzzle würden diese Details zusammenpassen. »Ich überlasse es dem Leser, sich selbst ein Urteil zu bilden«, schreibt er am Ende seines Artikels.
Wenig überraschend: Das Urteil in jüdischen Kreisen ist überwiegend negativ. Allein schon deshalb, weil die Tora nicht infrage gestellt, und Moses – immerhin der größte Prophet, den das jüdische Volk je hatte – nicht in Zweifel gezogen wird. Zudem wird die Einnahme von Drogen im Judentum grundsätzlich abgelehnt. Der Konsum schadet der Gesundheit, vermindert die Fähigkeit zur Konzentration und damit die Fähigkeit zu Gebet und Erfüllung der Mizwa des täglichen Torastudiums, argumentieren gläubige Juden.
Rabbiner Aryeh Sufrin, Gründer und Direktor von »Drugsline«, einer jüdischen Drogenhilfeeinrichtung in London, kennt die Folgen von Suchtmittelkonsum aus der täglichen Praxis. Er weiß: »Die Tora verbietet uns ausdrücklich Substanzen, die derartige psychische Effekte haben und zudem noch gesundheitsschädlich sind.« Der Theorie von Benny Shanon kann er überhaupt nichts abgewinnen. Er nennt sie »schon fast häretisch«.
Ähnlich denkt der kanadische Chabad-Rabbiner Mendel Kaplan aus Ontario: »Drogen haben absolut nichts mit Tora und Judentum zu tun.« Weder in der biblischen Geschichte noch im Hier und Jetzt.
Kaplan hat sich eingehend mit der Frage beschäftigt, was die jüdische Lehre und insbesondere die Kabbala zu Drogen- und Alkoholkonsum sagt. Er sieht zum Beispiel bei Haschisch und Kokain einen erheblichen Unterschied zu Wein und Wodka. »Denn während Alkohol etwas offen-
bart, was in uns ist – zum Beispiel ausgelassene Freude –, verändern Drogen das Bewusstsein, schaffen eine völlig andere Realität.« Sie sorgen für Halluzinationen, Visionen, Träume. »Doch Gott will nicht, dass wir die Realität ignorieren. Und er will schon gar nicht, dass wir uns zu sehr auf uns selbst konzentrieren.«
Viele Kabbalisten, erläutert Kaplan, ge-
hen häufig in die Mikwe. Das Untertauchen in diesem Ritualbad wird als »Twila« bezeichnet, was vom hebräischen Wort »Bitul« abgeleitet wird und »Annullierung« bedeutet. Sie hoffen, so ihr spirituelles Bewusstsein ändern und damit näher an die göttliche Erfahrung kommen zu können. »Man will sich damit auch vom Ego und der Egozentrik säubern.« Drogen bewirken genau das Gegenteil, meint der Rabbiner. Sie würden genutzt, um eine auf sich selbst gerichtete spirituelle Erfahrung zu machen.
Rabbiner Kaplan hat von den Theorien des Jerusalemer Psychologie-Professors gehört. Sein Kommentar: »Absoluter Nonsens, einfach Blödsinn.«
Das ist bei Weitem nicht mehr die einzige Kritik, die Professor Shanon einstecken muss. Sein Telefon klingelt unaufhörlich. »Ich kann schon nicht mehr«, sagt er etwas verzweifelt, »andauernd rufen mich Menschen aus der ganzen Welt an und wollen mir ihre Meinung zu dem Artikel sagen.« Im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen betont er, wie ärgerlich es sei, dass die meisten seiner Kritiker den Text gar nicht gelesen hätten. Denn sonst wüssten sie, dass er in dem britischen Magazin auf 17 Seiten seine Forschungsergebnisse viel ausführlicher und differenzierter dargestellt hat, als es jetzt die internationalen Nachrichtenagenturen in aller Kürze verbreiten. »Dennoch werde ich jetzt ständig wegen meiner Veröffentlichung attackiert, übrigens hauptsächlich von fundamenta-
listischen Christen aus den USA.«
Doch das lässt den Wissenschaftler von seiner Theorie, Drogen könnten im biblischen Geschehen eine Rolle gespielt ha-
ben, nicht abrücken. Gleichwohl will er mit seiner Veröffentlichung keineswegs Moses‹ religiöse und historische Bedeutung mindern: »Denn nicht jeder, der Rauschmittel nimmt, bringt uns danach die Zehn Gebote.«

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