Zwei Juden treffen in der Nähe des Badehauses zusammen. »Hast du genommen ein Bad?«, fragt der eine. »Wieso«, fragt der andere, »fehlt eins?«
Was ist das? Ein jüdischer Witz? Nein, wohl eher ein Judenwitz. Beides wird häufig miteinander verwechselt, unterscheidet sich aber wesentlich. Jüdische Witze sind Witze von, Judenwitze Witze über Juden, meist mit herabsetzender Stoßrichtung. In obigem Beispiel etwa wird unterstellt, dass Juden erstens stehlen, zweitens ein gestörtes Verhältnis zur Hygiene haben. Ein klarer Fall von Antisemitismus.
Könnte man meinen, wäre da nicht die Fundstelle. Die krude Geschichte steht in Sigmund Freuds Standardwerk Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Und sie wird dort nicht als Beispiel von Judenhass kritisch angeführt, sondern vom Verfasser zustimmend zitiert.
Warum findet ausgerechnet ein Jude, der selbst sein Leben lang unter antijüdischen Anfeindungen leiden musste, diesen Witz gelungen? Die antisemitische Färbung wird Freud ja wohl kaum entgangen sein. Handelt es sich um jüdischen Selbsthass? Oder um die – psychoanalytisch gesprochen – Abwehr des relativ frisch Assimilierten gegenüber den Symbolen seiner verleugneten Herkunft?
Oder sind vielleicht jüdische und Judenwitze doch miteinander enger verwandt, als einem lieb sein mag? Der Schriftsteller Manès Sperber erzählt in einem seiner Bücher diesen Witz: In einem Schtetl kommt es immer wieder zu grässlichen Pogromen. Der Rabbi des Nachbarschtetls fragt seinen Kollegen, was er und seine Gemeinde tun, um sich zu schützen. »Beim letzten Pogrom haben wir nicht nur 75 Psalmen gebetet, sondern alle 150. Und wir haben gefastet wie an Jom Kippur!«, lautet die Antwort. »So ist’s richtig!«, kommt der zustimmende Kommentar. »Man darf sich nicht alles gefallen lassen, man muss sich wehren!«
Dies ist nun eindeutig ein jüdischer, kein Judenwitz. Aber was sagt er letztlich aus? Juden, lautet die Botschaft, sind nicht in der Lage, sich zu wehren, wenn sie angegriffen werden. Sie sind schwach und feige. Und sie machen sich dabei noch etwas vor. Selbstachtung sieht anders aus.
Darin ist dieser Witz typisch. Ein Gutteil des traditionellen jüdischen Humors ist selbsterniedrigend. Er ist ein Kind der osteuropäischen Ghettos, in denen Millionen Juden in materiellem, emotionalem und intellektuellem Elend vegetierten. Aller modischen Nostalgie zum Trotz: Die Schtetl Osteuropas ähnelten mehr Slums als Dorfidyllen à la Anatevka oder Yentl. Es herrschten Armut, Schmutz und mittelalterliche Ignoranz. Vor allem aber herrschte eine Art Sklavenmentalität. Die Opfer von Unterdrückung, Demütigung und Erniedrigung dachten nicht einmal mehr daran, sich gegen ihre Feinde zu wehren. Sie hatten ihren Pariastatus schon soweit verinnerlicht, dass sie sich mit den Augen ihrer Unterdrücker sahen. Nicht zuletzt gegen diese verbreitete Mentalität richtete sich auch der frühe Zionismus.
Auf diesem Nährboden gedieh der klassische jüdische Witz als »letzte Waffe der Unterdrückten« (Freud). Man machte sich über sich selbst lustig, bevor die anderen es taten, und tröstete sich damit, zwar schwächer, aber schlauer zu sein als diese. Galgenhumor könnte man es auch nennen. Der Held dieser Art Witze ist meist ein Schlemihl, der sich mit Tricks den Nachstellungen seiner Feinde entzieht. Ins Antisemitische gewendet, kommt dabei dann der mauschelnde jüdische Betrüger heraus. Aus den zahllosen genuin ostjüdischen Witzen über Juden beispielsweise, die sich den Rekrutierern der zaristischen Armee entziehen, wurden im Ersten Weltkrieg in Deutschland und Österreich antisemitische Anekdoten über jüdische Drückeberger, ohne dass am Tenor viel geändert werden musste.
Kein Wunder, dass jüdische Witze bei Nichtjuden bis heute so populär sind, zeichnen sie doch ein Judenbild, das den tradierten Stereotypen entspricht. Ein Musterbeispiel dafür ist die populäre jiddelnde Kostümklamotte Die Abenteuer des Rabbi Jacob mit Louis de Funès. Deren Regisseur Gérard Oury war selbst Jude – und nicht der einzige jüdischen Filmemacher, der klassische Klischees bediente: Woody Allen gibt in seinen Filmen vorzugsweise den Typus des kleinen, schwachen Ghettojuden, den man ob seiner Hilflosigkeit halb bemitleidet, halb verlacht.
Max Byalistok, der Held von Mel Brooks’ The Producers (deutsch »Frühling für Hitler«) ist der prototypische vulgäre Raffke, der arischen Blondinen geil hinterherhechelt. Ein spezifisch deutsches Judenklischee wärmt Dani Levys Mein Führer derzeit auf: Der von Ulrich Mühe dargestellte Professor Grünbaum als humanistischer, alles verstehende, jeder Rache abgeneigte weise Nathan. So wünscht man sich in Deutschland nach der Schoa seine Juden: edel und verzeihend. Grünbaum hätte das Ernst-Ludwig-Kirchner-Gemälde nicht aus Berlin zurück-gefordert.
Solch vermeintlich jüdischer Humor findet, ähnlich wie die Klesmermusik, sein Publikum hauptsächlich unter Nichtjuden. Juden kommt bei solchen ollen Kamellen eher das Gähnen. Die Witze, über die sie lachen, haben nichts mehr vom geduckten Ghetto-Gestus an sich. Als beispielsweise Bundespräsident Horst Köhler bei seinem Israelbesuch 2005 den obligatorischen Yad-Vashem-Rundgang absolvierte, kommentierte die TV-Satire-Sendung Pini Agadol (zu deutsch »Der große Penis«): »Danke, Herr Bundespräsident. Für einen authentischen Eindruck vom Holocaust fehlen Ihnen jetzt noch 5.999.999 weitere Besuche.« In den USA ist Kinky Friedmans satirischer Countrysong They don’t make jews like Jesus anymore Kult; dort kriegt ein Antisemit in einer Kneipe von einem Juden eins aufs Maul. Und die junge amerikanische Stand-Up-Comedian Sarah Silverman reüssiert mit Sprüchen wie: »Ich bin von einem Arzt vergewaltigt worden. Für ein jüdisches Mädchen ist das eine bittersüße Erfahrung!«
Der bei Nichtjuden so beliebte jüdische Witz kommt aus einer Welt, deren Menschen von den Deutschen zu Millionen abgeschlachtet wurden. Dagegen halfen weder Gebete noch Witze. Heute haben Juden andere Waffen zur Verfügung als nur Humor – auch wenn ihre Feinde das vielleicht nicht ganz so spaßig finden.