Erinnerungstour

Rikscha nach Shanghai

von Larry Luxner

Im April machte Leah Jacob Garrick einen gemächlichen Spaziergang durch Chinas größte Metropole und genoß die Bilder, die Gerüche und Aromen des geschäftigen Hongkou-Bezirks in Shanghai. Doch Leah Garrick, 77, war nicht als gewöhnliche Touristin gekommen. Sie lebt in San Francisco und war in die Stadt zurückgekehrt, wo sie als direkte Nachfahrin wohlhabender sefardischer Juden, die im späten 19. Jahrhundert aus Bagdad via Bombay nach Shanghai gekommen waren, ihre Jugend verbracht hatte.
»Wir bewohnten damals in einem Haus an der Joffre Avenue das oberste Stock- werk, und die Diener lebten auf dem Dach«, erzählt Garrick. »Heute Nachmittag war ich da. Es war so bewegend. Sowohl mein Kindermädchen als auch unsere Köchin sind vor nicht langer Zeit verstorben. Aber ihre Kinder und Enkelkinder leben immer noch da. Ich mußte so viel weinen.«
Genauso erging es den meisten anderen der 109 Juden aus Amerika, Australien, Israel und Europa, die in Shanghai zusammenkamen, um ihre ferne Vergangenheit wieder zu entdecken. Anders als Garrick, die bereits in der vierten Generation in Shanghai gelebt hatte, waren alle übrigen fast ausnahmslos aschkenasische Flüchtlinge, die vor dem Nazi-Terror und den Schrecken des Zweiten Weltkrieges hierher geflohen waren. Als offene Stadt unter gemischter chinesischer und kolonialer Herrschaft war Shanghai einer der wenigen Orte, wohin Juden ohne Visum entkommen konnten.
So kamen zwischen 1937 und 1941 fast 30.000 Juden nach Shanghai. Aber als die Kommunisten 1949 in China an die Macht kamen, mußten auch die Juden sowie die meisten anderen Ausländer das Land verlassen. Viele dieser Menschen haben Shanghai nicht mehr gesehen, so wie der 78jährige Rene Willdorff aus Palo Alto, Kalifornien.
Willdorff, der im April ein Rikscha-Treffen für Überlebende und ihre Nachkommen organisiert hatte, sagte, seine Gruppe habe sich vorher bereits neunmal getroffen – in San Francisco im April 2002 und in Toronto im Oktober 2004. Aber es sei erst das zweite Mal gewesen, daß sich die ehemaligen jüdischen Flüchtlinge in Shanghai selbst versammelten. »Das erste Mal war 1993, als eine kleine Gruppe das Treffen völlig auf eigene Faust organisiert hatte, ohne Beteiligung der städtischen Behörden Shanghais«, sagt er. »Dieses Mal lief es anders. Es gibt jetzt einen Appell an die Unesco, das alte jüdische Ghetto zum Weltkulturerbe zu erklären.«
Für Willdorff, der 1939 mit seinen Eltern aus Berlin nach Shanghai floh, bedeutet das eine Menge. »Wir waren ziemlich arm, also mußten wir im Hongkou-Bezirk wohnen«, erinnert er sich. »Als wir schließlich gar kein Geld mehr hatten, mußten wir ins Ghetto ziehen. Mein Vater starb 1942 an einer Krankheit, meine Mutter und ich lebten unter so schlimmen Bedingungen, daß wir fast verhungerten. »Doch die Chinesen sind sehr nett und sanft, und sie haben uns nie behelligt. Ihnen war es egal, daß wir aus dem Westen kamen und Juden waren. Sie ließen uns in Ruhe. Unter den Japanern, die Shanghai besetzten, war es weitgehend genauso. Sie hatten Respekt vor den Juden, die unter ihnen lebten«, sagt Willdruff.
Shanghai ist Heimat für mehr als 16 Millionen Menschen und hat eine der mo- dernsten Skylines der Welt. Seine Wirtschaft gehört zu den weltweit am schnellsten wachsenden. BMWs und Buicks teilen sich die verstopften Straßen mit Fahrrädern, während überall glitzernde Shopping-Malls, Baukräne und Starbucks-Niederlassungen aus dem Boden schießen. Dennoch gibt es Orte, wo die Armut fortbesteht, zum Beispiel die Slums von Tilanqiao, wo stinkende offene Abwasserkanäle die Straßen durchziehen und es normal ist, daß fünf Familien in einer Wohnung hausen.
Tilanqiao ist auch das Zentrum des jüdischen Erbes Shanghais. Hier legen die Touristen einen Halt ein, um ein Denkmal aus schwarzem Granit zu fotografieren. Auf Chinesisch, Englisch und Hebräisch erin- nert es an das den staatenlosen Flüchtlingen zugewiesene Gebiet, das von den japanischen Besetzern 1937 markiert wurde.
In Tilanqiao befindet sich auch die Ohel-Moishe-Synagoge, die 1927 von der aschkenasischen Gemeinde gebaut und vor kurzem von der Shanghaier Stadtregierung restauriert wurde. Die 109 Teilnehmer des Rikscha-Treffens machten eine Rundreise zu allen diesen Stätten und besuchten auch die Ohel-Rachel-Synagoge, das ehemals sefardische Gotteshaus, das im allgemeinen für Publikum nicht zugänglich ist.
Reiseführer war der israelische Fotojournalist Dvir Bar-Gal, der in Shanghai lebt und versucht, die vielen hebräischen Grabsteine vor der Zerstörung zu retten. »Gegen Ende des Krieges hatten die Japaner nicht einmal für ihre eigenen Truppen ausreichend Nahrungsmittel, also gab es die meiste Zeit für Juden nichts zu essen«, sagt Bar-Gal. »Im Juli 1945 kamen die Amerikaner, um die japanischen Truppen zu bombardieren. Zwei Wochen vor Hiroschima und dem Ende des Krieges verfehlte eine der Bomben ihr Ziel und tötete hunderte Chinesen und einige jüdische Flüchtlinge.«
Vera Sasson, die als Baby aus Wien nach Shanghai kam, lebte hier von 1939 bis 1949. Sie war bereits bei dem ersten Treffen in San Francisco dabei. »Zu unserem Shanghaier Treffen kamen viele aus der zweiten und dritten Generation, was für mich sehr erfrischend ist«, sagt sie. »Davor gab es wenig Interesse.« Die Erinnerungen lebendig zu halten, schien das Hauptanliegen der Shanghaier Veranstaltung gewesen zu sein, was sich auch daran zeigte, daß so viele Juden der Shanghai Academy of Social Sciences Pässe, Dokumente und alte Familienfotos schenkten. Die Akademie organisiert die Kampagne, das 28 Hektar große alte jüdische Viertel zum Weltkulturerbe zu erklären.
Bruno Keith, 95, lebt seit 40 Jahren in Hawaii und ist einer der ältesten in der Gruppe. Er unterrichtete im Shanghaier Ghetto Hebräisch, weil er einer der wenigen Juden war, die es sprechen konnten. Daneben hielt er Vorträge über chinesische Geschichte und Geografie. Aber in den späten 1940er Jahren spürte er, daß es Zeit war, das Land zu verlassen. »Ich wußte, daß die Kommunisten einmarschieren würden. Ich hatte es im Gefühl«, sagt er. »Danach war ich nicht wieder in Shanghai. Die Erfahrung war zu bitter für mich gewesen. Ich hatte zu viele Menschen begraben. Ich bin oft durch ganz China gereist, doch Shanghai habe ich immer gemieden.« Gefragt, wieso er dieses Mal nach 59 Jahren doch Shanghai besucht, antwortete Keith schlicht: »Weil ich nicht mehr lange leben werde.«

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