Enthaltsamkeit

Prinzip Sehnsucht

von Rabbiner Avichai Apel

Der moderne Mensch lebt in einer Welt voller Vielfalt. Er interessiert sich nicht nur für das, was um ihn herum geschieht, sondern er reist, lernt neue Kulturen und unterschiedliche Menschen kennen. Auch in der Beziehung zwischen Mann und Frau besteht ein Bedürfnis nach Abwechslung. Die Routine des Zusammenlebens kann Langeweile verursachen und im Extremfall Erstickungsgefühle hervorrufen, die den Menschen dazu verleiten, an anderen Orten nach Lösungen zu suchen. Wie kann der Mensch in eine langfristige Partnerschaft hineingehen, die ihn befriedigt – bis 120?
Bei der Erschaffung der Welt erkannte G’tt: »Es ist nicht gut, dass der Mensch allein bleibt.« Deshalb nahm Er eine Rippe vom Menschen und schuf die Frau. Bereits damals sind zwischen Mann und Frau physische und mentale Unterschiede geprägt worden, die eine Verbindung zu einem Paar erforderlich machen. Das Alleinsein ist für einen Mann oder eine Frau ungeeignet. Der Mensch ist ein soziales Wesen und deshalb muss jeder von uns einen Partner oder eine Partnerin haben, mit der er/sie das Leben verbringt.
Die Tora definiert den erforderlichen Weg für das jüdische Familienleben: »Darum verlässt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau und sie werden ein Fleisch.« Hier zeigt sich ein Gesetz der Tora. Eine partnerschaftliche Beziehung stützt sich auf die Verbindung zwischen Mann und Frau, die sowohl eine geistig-mentale, aber auch eine körperliche Beziehung haben. Die Tora segnet das Eheleben und sieht die geistig-mentale Verbindung als Ideal.
Anders als die Auffassung, die das Eheleben als eine niedrige, durch körperliche Lust motivierte Handlung betrachtet, sieht die Tora das Eheleben als etwas Heiliges und verwandelt die körperliche Lust in einen bedeutungsvollen Akt. Diese Bedeutung stützt sich einerseits auf das Bedürfnis, Kinder in der Welt zu setzen und auf die Mizwa »Vermehret euch«. Andererseits sieht die Tora im Bestand der Geschlechterbeziehung ein Gebot: Bei der Eheschließung verpflichtet sich der Mann gegenüber seiner Frau, und diese Verpflichtung hat halachische Gültigkeit. Falls der Mann nicht bereit ist, seine Verpflichtung zu erfüllen, kann dies zur Scheidung führen.
Wir danken G’tt während der Chuppa für das Vorhandensein dieser Beziehung und beten: »der uns durch Seine Gebote geheiligt und uns Gesetze über intime Beziehungen gegeben hat, uns die Verlobten verboten hat, uns aber die uns durch Baldachin und Heiligung Angetrauten erlaubt hat«. Der Geschlechtsverkehr zwischen fremden Menschen ist verboten. In der Tora gibt es ein Gebot von Geschlechtsverkehr zwischen Eheleuten, das gleichzeitig auch die Grenzen absteckt.
Sofort nach der Sünde von Adam und Eva wurde bei der Frau eine körperliche Eigenschaft geschaffen, die auch mentale Veränderungen prägt. Diese Eigenschaft, die interessanterweise nur bei Menschen und nicht bei Tieren geschaffen wurde, kann zur Verstärkung der Paarbeziehung führen!
Die Frau führt ihr Leben in Zyklen. Rund vier bis sechs Tage im Monat beobachtet die Frau, dass aus der Gebärmutter Blut austritt. Diese Periode wird mit körperlichen und mentalen Gefühlen begleitet, die die Rolle der Frau verändern. In dieser Zeitspanne wird die Frau von der Tora als »Nida« bezeichnet. Ab Beginn der Beobachtung des Blutes verbietet die Tora jeglichen körperlichen Kontakt zwischen dem Ehepaar. Die Weisen schränkten dies weiter ein und legten fest, dass die Frau nach Abschluss der Bluttage sieben weitere Tage warten muss, bis sie feststellt, dass kein Blut mehr austritt. Nach Ende der Nida wäscht sich die Frau in einer koscheren Mikwe, in der Regen- oder Quellwasser gesammelt wird. (Eine Badewanne oder ein Schwimmbad sind nicht ausreichend). Danach gilt die Frau als gereinigt. Mann und Frau kehren nun zurück auch zum körperlichen Zusammenleben als Paar – verpflichtet, bis zur nächsten Periode ein vollkommenes Eheleben zu leben.
Warum prägte G’tt diese Eigenschaft bei der Frau, und warum verbietet die Tora den Körperkontakt während der Nida bis zur Reinigung in der Mikwe?
Die Tage der Blutung sind Tage von Lebensverlust. Im Körper der Frau befindet sich eine Eizelle, die durch den Samen des Mannes befruchtet werden kann. Im Körper der Frau befindet sich die Kraft, neues Leben zu schaffen. Die Blutung ist das Zeichen dafür, dass diese Gelegenheit nicht genutzt wurde, und deshalb geht die Eizelle verloren. Dieser Lebensverlust gilt als Zeit des Unreinseins.
Diese Unreinheit hat wiederum eine besondere Eigenschaft. Nach dem Austritt des Eis und dem Verlust neuen Lebens schöpft der weibliche Körper Kraft und ermöglicht durch ein neues Ei wieder eine Zeugung und Schwangerschaft. In diesem Zeitraum, wenn neue Kräfte gesammelt werden, ist es Mann und Frau verboten, körperlichen Kontakt miteinander zu haben. Erst wenn erneut die Gelegenheit besteht, neues Leben zu empfangen, reinigt sich die Frau, indem sie sich in der Mikwe wäscht, und das Leben des Paares normalisiert sich.
Jeden Monat werden Mann und Frau für etwa zwölf Tage getrennt (rund fünf Tage der Blutung plus sieben Tage ohne Blutung bis zum Waschen in der Mikwe), denn es geht darum, Routine und Langeweile im Eheleben zu vermeiden. Der Zeitraum, in dem das Paar Zeit für Nähe nur durch Gespräche und ohne körperlichen Kontakt hat, verstärkt die partnerschaftliche Verbindung. Erstens, weil eine gesunde Partnerschaft nicht allein von körperlichem Kontakt abhängig sein kann. Und zweitens, weil dadurch zwischen den Partnern das Gefühl des Einandervermissens entsteht.
Der Tag des Waschens in der Mikwe ähnelt dem Hochzeitstag. Die Frau reinigt ihren Körper besonders und bereitet sich damit auf ein Ereignis vor. Das Waschen in der Mikwe und das vollständige Untertauchen im Wasser sind wie Neugeburt, sie sammelt körperliche und geistige Kräfte, die das Paar danach in einen Zustand zurückbringen, von dem die Tora sagt: »Und sie werden sein ein Fleisch« – körperlich und geistig.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Dortmund.

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