Hannah Arendt

Populär, weil mißverstanden

von Thomas Meyer

Würde man unter Bundesbürgern mit Hochschulabschluß eine Umfrage nach bekannten deutsch-jüdischen Philosophen machen, drei Namen würden mit Sicherheit genannt: Theodor W. Adorno, Hannah Arendt und Walter Benjamin. Sie bilden die Spitzengruppe der hierzulande allgemein als jüdisch gekennzeichneten Denker. Andere, die wie Martin Buber, Franz Rosenzweig oder Gershom Scholem sich viel intensiver mit jüdischen Fragen befaßt haben, sind längst nur noch in Spezialistendiskursen beheimatet.
Warum diese drei? Bei Adorno läßt es sich am besten mit Hans Blumenberg erklären: Keiner versteht ihn, aber nach drei Sätzen weiß jeder, wie es bei ihm funktioniert. Benjamins Werk ist von einer konstitutiven Uneindeutigkeit gekennzeich- net, was die Türen für die Interpreten weit öffnet. Bei ihm werden alle fündig, und so werden aus seinen qualitativ sehr stark schwankenden Texten fortlaufend ganze Messianismus-, Moderne-, Sprach- und Religionstheorien abgeleitet.
Bleibt Hannah Arendt, die am 14. Oktober ihren 100. Geburtstag feiern könnte. Sie ist anders als Adorno und Benjamin auch bei ihren Anhängern umstritten. Die einen kritisieren, daß die Übernahme ihrer Reflexionen über den modernen Totalitarismus durch das angehängte Wort »Theorie« zu einem konservativen bis reaktionären Erklärungsmodell von Nationalso- zialismus und Stalinismus umfunktioniert wurde. Für andere ist ihre Verbindung zu Martin Heidegger unverständlich; daß sie mit dem Freiburger Meisterdenker zudem noch eine erotische Affäre unterhielt, schmiedet Arendt in den Augen mancher nur noch stärker an die Kette des zeitweiligen Nazis. Ihr Konzept der »Natalität« des Menschen wird als bloße Opposition zu Heideggers »Sein zum Tode« gelesen. So als habe sie nie über Platon, Aristoteles und Kant nachgedacht, in deren Analyse sich ihre philosophische Unabhängigkeit am deutlichsten manifestiert.
Die meisten selbsterklärten Hannah-Arendt-Fans haben freilich nie eine philosophische Zeile ihres Idols gelesen. Ist es ein Zufall, daß Arendts bekanntestes Buch kein philosophisches Werk war, sondern eine Reportage? Eichmann in Jerusalem 1963 hat sie berühmt gemacht. Ihr dort geprägter Begriff von der »Banalität des Bösen« ist in die Alltagssprache eingegangen. Daß sie auch die jüdische Seite ins Visier nahm, die Judenräte der unnötigen Kollaboration mit der SS zieh und von dem Jerusalemer Verfahren als einem »Schauprozeß« sprach, trug ihr nicht zuletzt in Deutschland Lob ein. Gerühmt wurden die Härte ihres Denkens und ihre intellektuelle Unbestechlichkeit. Jede Ambivalenz im Leben und Denken von Juden läßt hierzulande die Aufmerksamkeit hochschnellen. Große Teile der jüdischen Welt griffen dagegen das Buch vehement an, beschuldigten die Autorin des jüdischen Selbsthasses. Gershom Scholem warf ihr mangelnde »ahavat israel« – Liebe zum eigenen Volk – vor. Die mit hoher Solidarität und der Bereitschaft zum Verzeihen geführte Freundschaft zwischen den beiden zerbrach. Scholem wollte nach seiner Kritik am Eichmann-Buch ein Gespräch, er bekam keine Antwort mehr. Hannah Arendt antwortete ihm nur indirekt in dem legendären Interview mit Günther Gaus von 1964, das am Freitag auf arte zu sehen sein wird. Dort sagte sie, sie könne kein Kollektiv lieben, sondern nur ihre Freunde. Im Zweifelsfall ging für Hannah Arendt ihre intellektuelle Freiheit vor. Die gelegentlich verletzende Schärfe ihrer Aussagen gehörte ebenso dazu, wie das Gefühl, permanent mißverstanden zu werden, das in ihren Briefwechseln mit Freunden deutlich wird.
Neben dem Eichmann-Buch ist Hannah Arendt im deutschen Nachkriegsbewußtsein präsent durch ihre Freundschaft mit dem wertkonservativen Karl Jaspers, den sie in das glänzende Licht der Öffentlichkeit zu rücken verstand. Das ist von Teilen des Publikums als eine Art Rehabilitation des deutschen Bürgertums mißverstanden worden. Eine Fehlwahrnehmung, die nur möglich war, weil hierzulande bis heute wichtige Teile von Hannah Arendts umfangreichem Schaffen noch immer ignoriert werden. Das gilt vor allem für ihre tagespolitischen journalistischen Texte um 1945. Niemand hat mit solch schneidender Schärfe und Präzision die Wiedereinrichtungsversuche der Deutschen nach 1945 seziert. Wer Arendts direkt nach Kriegsende verfaßten Essays liest, dem muß das fröhliche Schreiten der Alexandra Maria Laras nach dem Untergang ins Helle als das obszönste Bild des deutschen Nachkriegsfilms erscheinen. Hier ist Arendt noch immer das beste Gegengift. Ihre Beobachtung von 1945, daß die Deutschen ihnen unangenehme Fakten dadurch aus der Welt zu schaffen versuchten, indem sie sie zu bloßen Meinungen deklarierten, ist noch immer aktuell.
Vieles, das Hannah Arendt geschrieben hat, ist an die Zeit gebunden. Daneben aber stehen Verdichtungsleistungen, die kaum ein Pendant haben. Man lese ihr Aufspüren der jüdischen »verborgenen Tradition«, ihre Benjamin und vor allem Lessing gewidmeten Texte und schließlich die sechs Einübungen ins politische Denken unter dem Titel Between Past and Future. Der »Paria«-Begriff, den sie als politische Theoretikerin für die europäischen Juden geprägt hat, bietet bis heute eine Möglichkeit, die Entrechtlichung auch anderer Minderheiten in den Blick zu bekommen.
Hannah Arendt paßt in kein Schema. Nie hat sie Bündnisse geschlossen. Sie hat sich gewiß nicht die deutsche Zuneigung erdienen wollen, die rätselhaft bleibt. Nach allem Kopfschütteln sollte man sie lesen – noch immer das sicherste Mittel, sich nicht dumm machen zu lassen von Liebedienereien jedweder Couleur.

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