Arm und Reich

Nur kein Neid

von Jonathan Rosenblum

Für Eltern gehört es mit zu den schwie-
rigsten Aufgaben, ihren Kindern zu erklären, warum Menschen in so unterschiedlichen Verhältnissen leben. Doch wir müssen uns der Herausforderung stellen, denn Unterschiede in der Lebenshaltung, wie Armut, wird es immer geben.
Eine Gesellschaft ohne große Unterschiede beim Einkommen und in der Le-
bensführung wäre zweifellos eine viele an-
genehmere Umgebung. Aber das macht sie nicht unbedingt zur idealen Gesellschaft. Gesellschaften mit den größten Einkommensunterschieden sind in der Regel auch die, die am meisten Reichtum für alle hervorbringen. Sie entfesseln die Macht menschlichen Ehrgeizes, der nicht allein nach Reichtum strebt.
Der Rabbiner einer mittelgroßen Ge-
meinde ohne viele reiche Mitglieder äu-
ßerte mir gegenüber einmal seine Zweifel daran, dass seine Gemeinde jemals große Talmidei Chachamim (gelehrte Schüler) hervorbringen wird. Seinen Gemeindemitgliedern, meinte er, mangele es an Ehrgeiz.
Ideal wäre es, wenn Einkommensunterschiede zwischen Gemeindemitgliedern keine Probleme aufwerfen. Wenn wir das Sameach B’chelko (Talmud: Zufriedenheit mit dem eigenen Anteil oder Los) erfolgreich vorleben und diese wertvolle Charaktereigenschaft unseren Kindern weiter-
geben, werden Fragen des Einkommens zur Nebensache.
Aber das gelingt uns selten. In einem Interview sagte Rabbi Yehudah Silman, einer der führenden Dajanim (Rabbinatsrichter) in Eretz Israel, als Folge des ungeheuren finanziellen Drucks, der auf so vielen Menschen laste, sei Neid in-
nerhalb orthodoxer Gemeinden mindestens ein ebenso großes Problem wie in der säkularen Gemeinschaft. Dieser Neid, betonte er, ist Gift für unsere Kinder: »Wenn ein Kind seine Eltern voller Neid über den Nachbarn herziehen hört, dessen Hausbau sie verhindern möchten […], zerstört es seine Seele. Ein solches Kind wächst mit dem Neid auf andere auf; ein Teufelskreis, der sich ständig wiederholt.«
Das Prinzip Sameach B’chelko wird von unseren Weisen gerade deswegen so hoch gehalten, weil es so schwierig zu erreichen ist. Doch Eltern, die versuchen, in ihren Kindern diesen Charakterzug zu fördern, müssen auch die menschliche Natur in Rechnung stellen. Ich erinnere mich an einen armen Studenten, der mir gegenüber beschrieb, wie es für ihn war, von Eretz Israel nach Nordamerika überzusiedeln, wo er in einer sehr wohlhabenden Gemeinde lebte. Dort war es selbstverständlich, dass alle Kinder Fruchtsaft mit zur Schule brachten – außer eben seine Kinder, denn er konnte es sich bei Weitem nicht leisten, für jedes seiner Kinder jeden Tag Saft zu kaufen.
Vor Kurzem wurden an der Bais-Yaakov-Schule in Jerusalem alle Mädchen aus englischsprachigen Elternhäusern in einer getrennten Klasse zusammengefasst. Als ich von dieser eklatanten Diskriminierung hörte, war ich entsetzt. Ich wollte verstehen, wie eine solche Entscheidung überhaupt zustande kommen kann. Dabei erfuhr ich, dass die Rektorin ein wunderbarer Mensch und eine hervorragende Lehrerin sei, sie jedoch keine Wahl gehabt habe: Hätte sie die Entscheidung nicht getroffen, hätten alle einheimischen israelischen Familien ihre Kinder abgemeldet und sie an anderen Schulen in der Nähe untergebracht.
Warum die Angst vor den Englischsprachigen? Weil unter ihnen viele wohlhabender sind als ihre israelischen Nachbarn. Deren Familien wollen nicht, dass ihre Töchter mit einer Lebensweise konfrontiert werden, die jenseits ihres Einkommens liegt. Sie haben Angst, der Kontakt könnte in ihren Töchtern das Verlangen nach einem Lebensstandard wecken, der weit entfernt ist von dem, was sie erwarten können. Die Konfrontation mit dem Wohlstand ist für diese Eltern eine spirituelle Bedrohung ihrer Töchter. Und die Ängste der Eltern können auch nicht einfach abgetan werden.
Als einmal ein reicher Mann Rabbiner Chaim Ka-
nievsky besuchte, war er schockiert zu sehen, wie Reb Chaim inmitten eines Kreises schlafender Kinder an seinem Pult studierte. Unverzüglich bot er an, ihm eine größere Wohnung zu beschaffen. Der Rabbiner und seine Frau schlugen das Angebot aus. Aber der Mann bedrängte sie weiterhin. Er besuchte die Mutter von Reb Chaim, die Witwe des Steipoler Gaon, um sie für seine Sache zu gewinnen. Statt dankbar zu sein, sagte sie zu seiner Bestürzung, dass das, was er vorschlug, eine grausame Tat war. »Es gibt tausende von Toraschülern in Bnei Brak, die mit ihrer Le-
benssituation zufrieden sind, da Rabbiner Chaim Kanievsky nicht besser lebt als sie. Sobald das nicht mehr der Fall ist, verlieren sie jenes entscheidende Menuchas Hanefesch (Seelenfrieden)«, erläuterte sie.
Aus dieser Geschichte lernen wir, dass auch den Menschen am oberen Ende der Einkommensskala zahlreiche Pflichten ob-
liegen – nicht nur jenen, die weiter unten stehen und die mit ihrem Los zufrieden sein müssen. Zuallererst bedeutet es, die Verpflichtungen der Zedakka (Wohltätigkeit, Gerechtigkeit) zu erfüllen. Rabbiner Schneur Kotler meinte einmal beim Eintreten in einen Saal, wo viele fromme Ju-
den versammelt waren. »Wenn alle An-
wesenden mir lediglich ein Maaser (Zehntel) geben würden, hätten unsere Einrichtungen finanziell ausgesorgt.« Und er sprach von jenen, deren Spenden alles, was man in der säkularen Welt kenne, in den Schatten stellt.
Doch zu den Pflichten gehört auch –
insbesondere heutzutage, wo so viele Menschen in finanziellen Schwierigkeiten ste-
cken –, sein Leben so zu führen, dass kein Neid entsteht und Leute nicht dazu getrieben werden, Geld auszugeben, das sie nicht haben. Bis dato unbekannte Simches (Familienfeste) verschlingen unsere Zeit und unser Geld: die riesige Feier statt des traditionellen Lechaims zu Hause im engs-ten Familien- und Freundeskreis; die ex-
travagante Barmizwa, bei der der junge Mann die meiste Zeit verloren und allein herumsitzt, während sein Vater mit seinen Freunden plaudert. Eine Seuda (Essen) für seine Klassenkameraden, mit viel Singen, oder für alle Familienmitglieder und Er-
wachsenen, die mit dem Barmizwa-Jungen tatsächlich schon länger vertraut sind, würde ihm viel mehr bedeuten.
All diejenigen, die glauben, sie würden mit prunkvollen Hochzeiten bei anderen Eindruck schinden, sollten sich ins Ge-
dächtnis rufen, welche Antwort der Rebbe dem Chasan gab, der ihm gestand, er habe mit dem Gefühl des Stolzes kämpfen müssen, als sein Gebet die ganze Synagoge zu Tränen rührte. Der antwortete: »Dreh dich um und sieh, wie sie über dich lachen.« Wollen wir tatsächlich, dass unsere vulgäre Angeberei Verachtung und Spott auf sich zieht, in einer Zeit, wo Tora-Institutionen betteln gehen müssen?
Wenn die Wohlhabenden sich nicht für sich selbst einschränken möchten, sollten sie es für andere tun. Auf einer Ad-hoc-Konferenz, auf der Aktivisten von Agudath Israel of America Spenden sammelten, um den Gemeinden dabei zu helfen, mit den Auswirkungen der derzeitigen Finanzkrise zurechtzukommen, meinte ein Redner, viele Juden würden für einen Freund etwas tun, was sie für sich selbst nicht tun. Und in dieser Zeit bedeutet das, mit viel weniger Prahlerei zu leben.
Nur dann können wir der unerbittli-
chen Spirale von stetig wachsenden Ansprüchen für Simches, die so viele Familien an den Rand des finanziellen Ruins und darüber hinaus geschoben hat, Einhalt ge-
bieten. Keiner soll Geld ausgeben, das er nicht hat.
Aber jene, die Geld haben, sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, die Menschen nicht in Versuchung zu führen und das Gefühl des Benachteiligtseins noch zu verstärken. Auf beiden Seiten der Einkommenskluft haben wir alle viel zu tun.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.jewishmediaresources.org

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