Ben Katchor

Noah am Niagara

von Ingo Way

Im Jahr 1825 ruft ein windiger New Yorker Geschäftsmann, Lokalpolitiker und Hobbydramatiker namens Mordecai Noah die Juden der Welt auf, gemeinsam mit ihm auf einer Insel im Niagarafluss zwischen dem Eriesee und dem Ontariosee einen jüdischen Staat zu gründen. »Ararat« soll der Name des neuen Zion sein. Auch die Ureinwohner Nordamerikas sind willkommen, sich in Ararat niederzulassen, hält Noah sie doch für die Nachfahren der verlorenen Stämme Israels. Das ambitionierte Projekt scheitert an einem kleinen Detail: Buchstäblich niemand will Mordecai Noah in sein gelobtes Land begleiten. Frustriert kehrt der verhinderte Moses nach New York zurück. Sein Apartment dort hatte er vorsichtshalber nicht gekündigt.
Mordecai Noah ist die einzig historisch verbürgte Figur in Ben Katchors Graphic Novel Der Jude von New York. Es treten dort weiter auf: Moishe Ketzelbaum, der versehentlich von einem Jäger erschossen wird und ausgestopft im Museum landet; eine Landkommune Jiddisch sprechender Vegetarier; der Impresario Hershel Goulbat, der im Varieté einen perfekt Hebräisch betenden Indianer präsentiert; Yossl Feinbroyt, der Taschentücher mit kabbalistischen Mustern entwirft. »Katchors 19. Jahrhundert, ein Reigen von Geschäftemachern, Pilgern und Kabbalisten, ist ein wahres Vergnügen«, schrieb die Village Voice, als das Buch 1988 in den USA herauskam. Elf Jahre nach der Erstveröffentlichung liegt es nun endlich im kleinen Berliner avant-verlag auch auf Deutsch vor.
In den USA gilt der 1951 in Brooklyn geborene Katchor als einer der anspruchsvollsten zeitgenössischen Comiczeichner, in seinem Renommee vergleichbar mit Art Spiegelman, mit dem er befreundet ist. Er zeichnete Strips für den Jewish Forward, den New Yorker und die New York Times. Auch Der Jude von New York wurde zuerst in Fortsetzungen im Forward veröffentlicht. Fokus von Katchors Graphic Novels ist meist seine Heimatstadt. In einer seiner bekanntesten Serien Julius Knipl, Real Estate Photogra-pher lässt er seine Titelfigur durch ein surreales, zeitloses New York wandern und Architektur fotografieren.
Hierzulande kennt Katchor (noch) kaum jemand. Einige seiner Strips sind in Fanzeitschriften wie dem Berliner »Strapazin« erschienen. Dabei liebt der Künstler Deutschland, Berlin ganz besonders. Vor ein paar Jahren war er Fellow an der American Academy. Damals wollte er einen Berlin-Comic schreiben. Doch die Idee verwarf Katchor dann wieder. »Für ein ganzes Buch kenne ich die Stadt doch noch nicht gut genug«, erklärt er. »Aber ich bin gerne hier, um mich vom hektischen New York zu erholen. Die Stadt ist so grün und entspannt.« Katchor genießt sichtlich den sonnigen Frühlingsnachmittag in einem kleinen Kreuzberger Straßencafé in der Nähe des Jüdischen Museums, wo er am Abend – ja was, einen Vortrag?, eine Lesung? – halten wird. »Illustrated Lecture« nennt es Katchor: Er projiziert kolorierte Bilder aus seinen Comics auf eine Leinwand und liest die Texte dazu.
Zum Comic kam Katchor nur gegen Widerstände. In seiner Familie – der Vater kam aus Polen, seine Muttersprache war Jiddisch –, wurde großer Wert auf Bildung und auf seriöse Literatur gelegt. Comics galten als minderwertig. »Das hat zum einen mit der jüdischen Tradition zu tun, in der das Bilderverbot eine große Rolle spielt«, glaubt Katchor. Wobei, fügt er hinzu, nicht nur das Judentum, sondern auch die antike Philosophie die Hierarchie von Schrift und Bild kannte, die, sagt der Zeichner, mit der Trennung von Körper und Geist korrespondiere und das westliche Denken bis heute präge. »Doch in der populären Kultur und im Theater gab es immer die Verbindung von Bild und Text.« Deswegen liebt Katchor auch das Theater – er schrieb unter anderem ein Libretto für ein Musical, und auch im Juden von New York spielt das Theater eine große Rolle.
In welcher Tradition sieht er sich selbst? Katchor nennt die Bildergeschichten von Rodolphe Töpffer und Wilhelm Busch, die »Bilderbücher für Erwachsene« von Edward Gorey und die Cartoons von Jules Feiffer. Von Jerry Siegel und Joe Shuster dagegen, den Erfindern von Superman, die manchen als jüdische Gründerväter des Comics gelten, hält Katchor nicht viel. »Das ist kein Grund, besonders stolz zu sein«, findet er. »Das ist auch nichts genuin Jüdisches. Die haben einfach an die schlechtesten Traditionen der amerikanischen Pulpliteratur angeknüpft, in der Gewalt und Selbstjustiz verherrlicht werden.«
Eigentlich sei der Comic eine urdeutsche Erfindung, sagt Ben Katchor und verweist auf die Bilderbögen des 18. und 19. Jahrhunderts. »Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie aus den USA reimportiert und galten jetzt als amerikanischer Schund. Daher gibt es in Deutschland keine entwickelte Comic-Kultur.« So erklärt sich Katchor auch den Umstand, dass seine Graphic Novels bislang zwar in französischer, japanischer und italienischer Übersetzung erschienen sind, aber erst jetzt auf Deutsch. Doch besser spät als nie. Und wenn Katchor oft genug zu Lesungen eingeladen wird – vielleicht beschert er uns dann eines Tages auch den großen Berlinroman als Comic.

ben katchor: der jude von new york
avant, Berlin 2009, 112. S., 19,95 €

www.katchor.com

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