britisch-jüdischen Adel

»Nie Schinken essen vor der Dienerschaft «

Mr. Sebag Montefiore, Sie sind Spross einer der ältesten britisch-jüdischen Adelsfamilien. Seit wann gehören die Montefiores zum oberen Stand?
montefiore: Seit 1846, als Queen Victoria meinen Vorfahr Moses Montefiore zum Baron erhob. Die Montefiores kamen Ende des 18. Jahrhunderts aus Livorno in Italien. Sir Moses hatte als Makler in der City of London sein Vermögen gemacht.

Und die Sebags?
montefiore: Die kamen ursprünglich aus Marokko, wo sie Minister am Hof des Sultans gewesen waren. Um 1820 ließen sie sich in England nieder. Die Familie meiner Mutter stammt allerdings aus russisch-polnisch-litauischem Hintergrund, ist also aschkenasisch. Ich bin quasi eine jüdische Promenadenmischung.

Als Montefiore gehören Sie zur britischen Oberschicht.
montefiore: Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Ich glaube, Juden sind eine Schicht für sich. Es stimmt natürlich, dass ich und meine Geschwister erzogen wurden in dem Bewusstsein, dass ein Montefiore zu sein, besondere Verpflichtungen mit sich bringt. Mit dem sozialen Stand hatte das aber weniger zu tun, sondern mit dem Judentum. Von einem Montefiore wurde erwartet, dass er vorbildlich die Halacha befolgte. Mein Großvater beispielsweise war ein typischer englischer Landedelmann mit großem Haus, Rennpferden, Fuchsjagden, Butler und dem ganzen Kram. Ich erinnere mich, wie er einmal zu meinem Vater sagte: »Wenn die Dienerschaft ihren freien Tag hat, darfst du Schinken essen. Aber nie, wenn das Personal im Haus ist. Du bist schließlich ein Montefiore!«

Heiratet man als Montefiore nur innerhalb der eigenen sozialen Klasse?
montefiore: Schon lange nicht mehr. Im 19. Jahrhundert ja. Die jüdischen Bankiers-familien haben damals oft untereinander geheiratet. Die Montefiores und die Rothschilds zum Beispiel acht Mal. Daraus ent- stand ein enges Netzwerk, genannt »The Cousinhood«, die Vetternschaft. Das ging so bis zum Zweiten Weltkrieg. Nach 1945 funktionierten derart arrangierte Ehen nicht mehr, die Kinder heirateten, wen sie wollten. Die Eltern konnten froh sein, wenn der Ehepartner wenigstens jüdisch war.

Ist Ihre Frau, die Romanautorin Santa Sebag Montefiore, jüdisch?
montefiore: Sie ist übergetreten.

Bei Ihrer Hochzeit war einer der Gäste Prince Charles. Hat er in der Synagoge eine Kippa getragen?
montefiore: Selbstverständlich

Eine von den billigen, die man an die nichtjüdischen Gäste verteilt?
montefiore: Oh nein. Der Prince of Wales hat seine eigene Kippa, mit seinem einge-stickten Wappen drauf. Er hat übrigens auch meine Ketuba unterzeichnet. Und zwar mit »Charles, Princeps«. Es muss die einzige jüdische Heiratsurkunde der Geschichte sein, die lateinisch signiert ist.

Wer je in Jerusalem war, kennt die berühmte Montefiore-Windmühle. Auch ein Teil Ihrer Familiengeschichte?
montefiore: Ja. Sir Moses hat den Jischuv im 19. Jahrhundert sehr großzügig finanziell unterstützt. Er hat die Mühle und das Stadtviertel, in dem sie steht, gebaut. Es trägt auch seinen Namen, Jemin Mosche.

Ist das zionistische Engagement auch so weit gegangen, dass sich Montefiores in Israel niedergelassen haben?
montefiore: Nur einer. Mein Bruder Adam ist in Israel im Weingeschäft. Aber er ist der Einzige aus unserer Familie, der in 150 Jahren je dort hingezogen ist.

Sie sind in Deutschland, um Ihre neue Biografie »Der junge Stalin« zu präsentieren. Es ist nach der viel beachteten Studie »Am Hof des roten Zaren« 2005 bereits Ihr zweites Buch über den sowjetischen Diktator Was fasziniert Sie so an Stalin?
montefiore: Ich denke, Stalin war eines der großen Rätsel seiner Zeit. Heute ist er vielleicht nicht mehr ein ganz so großes Rätsel; wir wissen inzwischen viel mehr über ihn. Ich hatte das Glück, meine Bücher zum richtigen Zeitpunkt recherchieren zu können, als in den Archiven viel Material über Stalin zutage trat, das mir ermöglichte, ihn in einem neuen Licht zu zeigen.

Sie gehen an Ihr Thema anders heran als akademische Historiker. »Am Hof des Roten Zaren« liest sich wie »Der Pate«. Die ganze Atmosphäre, wie Sie sie dort beschreiben, trieft von Blut und Gewalt.
montefiore: Das ist, zugegeben, einer der Gründe, warum sich das Buch so gut verkauft hat. Und das macht auch die Faszination des Themas für mich als Historiker und Autor aus. Wenn man Figuren wie Stalin – oder Hitler oder Saddam Hussein – betrachtet, will man wissen: Sind diese Leute anders gestrickt als wir Normalsterblichen? Menschen, die so nonchalant andere Menschen umbringen und umbringen lassen – sind das andere Wesen als wir?

Und sind sie es?
montefiore: Ja, in vielerlei Hinsicht sind es tatsächlich andere Wesen. Sehr ungewöhnliche Menschen. Seltsame Kreaturen. Sie sind eigenartig im Sinne des Wortes. Leute, die mit ihnen aufgewachsen sind, haben diese Eigenartigkeit schon früh festgestellt. Bei Stalin war das so, bei Mao auch. In ihren Heimatorten galten sie bereits als etwas Be-sonderes, als sie noch jung waren, lange bevor sie sich der Politik zuwandten. Sie selbst betrachteten sich übrigens auch als etwas Besonderes. Ja, solche Menschen sind anders.

Für Juden stellt sich bei Stalin eine be-sondere Frage: Wie antisemitisch war er? Stalin hatte viele enge jüdische Mitarbeiter, er hat den Antisemitismus verdammt – er nannte ihn barbarisch und »kannibalistisch« – aber in seinen letzten Lebensjahren hat er eine blutige Kampagne gegen Juden in der Sowjetunion und im Ostblock initiiert.
montefiore: Lasar Kaganowitsch – selbst Jude, Politbüromitglied und enger Vertrauter Stalins – hat gesagt, dass Stalin nichts gegen Juden hatte, aber dass seine Hauptfeinde eben Juden waren – Trotzki an erster Stelle, aber auch andere. Stalin hatte in der Tat viele enge und hochrangige jüdische Mitstreiter – Kaganowitsch, Mechlis, Jagoda und andere. Aber das waren proletarische, primitive Juden. Kaganowitsch zum Beispiel war Schuster. Gegen solche Juden hatte Stalin nichts. Was er nicht mochte, waren jüdische Intellektuelle. Darüber hinaus allerdings waren ihm aber die Juden als solche nicht wirklich geheuer. Er war ein Kontrollneurotiker. Staatliche Macht und staatliche Ordnung waren seine Obsessionen. Die Juden passten in dieses Denken nicht hinein.

Weil sie »wurzellose Kosmopoliten« waren, wie das in der Propaganda hieß .
montefiore: Richtig. Diese Wurzellosigkeit war es, die Stalin an den Juden hasste. Er konnte sich ihrer ungeteilten Loyalität nicht sicher sein. Loyalität war auch eine seiner Obsessionen. Einige Jahre vor seinem Tod 1953 wurde sein Antisemitismus dann mörderisch. Das hatte viel mit der Entstehung Israels zu tun. Ein jüdischer Staat, mit dem die sowjetischen Juden, sogar solche aus der Führung, wie Außenminister Molotows Frau Polina, sympathisierten. Schlimmer noch, ein jüdischer Staat mit enger Bindung an Amerika.

Ist Stalin heute nur noch eine historische Figur oder ist er immer noch wichtig?
montefiore: Sehr wichtig. Seit Putin ist er sogar noch wichtiger geworden. In Putins Russland ist Stalin nicht mehr nur eine kommunistische Erscheinung, sondern eine russische Nationalfigur.

Was werden Sie als Nächstes veröffentlichen? Wieder etwas über Stalin?
montefiore: Nicht direkt. Ich habe gerade einen Roman beendet über eine jüdische Familie in Russland und deren Leben unter den Zaren und den Kommunisten. Eine Familiensaga. Sie kommt nächsten Juni in Großbritannien heraus. Das wird aber dann auch mein letztes Buch sein, in dem Stalin vorkommt.

Mit was werden Sie sich stattdessen befassen?
montefiore: Ich habe gerade mit den Vorarbeiten zu einem Sachbuch über Jerusalem begonnen.

Etwas Aktuelles?
montefiore: Nein, eine Geschichte Jerusalems. Genauer, eine Geschichte Judäas, die versuchen will, herauszufinden, was dieses kleine Stück Land so wichtig für die Geschichte der Menschheit hat werden lassen.

Das Gespräch führte Michael Wuliger.

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