Marga Spiegel

Menschen mit Mut

von Jens Möller

Auf die groben Pflastersteine vor der St.-Johannis-Kirche legen sich weiße Flocken. Sie umwirbeln die beiden mannshohen Nadelbäume, die das steinerne Eingangsportal der Kirche einrahmen. »Sieht das nicht schön aus?«, fragt eine blonde Frau ihren Begleiter. Um den Kirchplatz herum ducken sich die herausgeputzten Häuser im Schatten des spätromanischen Gotteshauses. Getünchtes Fachwerk, glatter Backstein zieren die Fassaden, dazu grüne oder schwarz-weiße Fensterläden. Sandige Fußspuren im Schnee führen zur Flanke der Kirche. Vier auf Säulen ruhende Steinbögen umfassen die mächtige Holztür. Sie steht offen. Dahinter funkelt silberner Christbaumschmuck an Tannen, aufgereiht zu einem Spalier, das ins Dunkel des Gemäuers führt.
Es weihnachtet in Billerbeck, einem tief katholisch geprägten Flecken in der westfälischen Provinz, 25 Kilometer entfernt von Münster. Doch etwas stört die Postkartenidylle. Am Fuß einer schmalen Säule, von der aus eine steinerne Marienstatue den Kirchplatz überblickt, sprießt eine Sonnenblume durch den weißen Flockenteppich. Über allem thront an einem Fahnenmast eine Flagge in Rot, Weiß und Schwarz. In der Mitte prangt das Hakenkreuz.
Billerbeck ist Drehort für den Kinofilm Unter Bauern. Inmitten von Kunstschnee inszeniert der holländische Regisseur Ludi Boeken eine Szene aus der Überlebensgeschichte der Jüdin Marga Spiegel, verkörpert von Veronica Ferres (Das Superweib, Rossini, Die Frau vom Checkpoint Charlie). Armin Rohde (Das Wunder von Lengede, Keinohrhasen) spielt den Ehemann Sigmund »Menne« Spiegel, dem 1943 die Deportation droht. Damals fand die Familie hier auf dem Land Zuflucht bei westfälischen Bauern. Versteckt und ausgestattet mit falschen Papieren, entkam das Ehepaar und deren Tochter Karin Hitlers Schergen. 37 Verwandte schafften es nicht, gehörten zu den Millionen Menschen, die ermordet wurden. Ein Neffe von Marga Spiegel überlebte versteckt in Belgien – Paul Spiegel, der spätere Präsident des Zentralrats der Juden. Marga Spiegel dokumentierte ihre Erlebnisse 1965 in einem Buch.
Die Geschichte der Retter in der Nacht, so der Titel ihrer Erinnerungen, soll nun in die Kinos kommen. Und Marga Spiegel besucht die Dreharbeiten. Sie ist inzwischen 96 Jahre alt. Niemand würde sie auf dieses Alter schätzen. Am Set geraten die Schauspieler ins Schwärmen, wenn sie von der alten Dame sprechen. Veronica Ferres sagt, sie empfinde sogar eine »tiefe Seelenverwandtschaft« zu ihr. Marga Spiegel sei eine »weise und spannende«, mehr noch, eine »coole« Frau. Spiegel hört die Lobeshymne, lächelt ein wenig. Vor einem Jahr lernte sie Veronica Ferres kennen. Es habe sie beeindruckt, welch »tiefgehende Fragen« ihr die Schauspielerin stellte. Ferres war die Wunschbesetzung für ihr verfilmtes Überleben.
Äußerlich verbindet beide Frauen nur ihre Ausstrahlung – die hoch gewachsene, blonde Schauspielerin mit dem Puppengesicht und die altersweise Dame, die ihr gerade mal bis zur Brust reicht. Die vielen Lebensjahre drücken auf Spiegels Schultern. Aber sie steht kerzengrade, in der Hand einen zierlichen Gehstock mit einem Griff aus geschnitztem Horn. Ihre Lippen sind geschminkt, das Haar sorgsam hochgesteckt. Menschen umschwirren sie. Marga, trink’ doch etwas. Marga, alles in Ordnung? Nein, nur keine Mühe, bedeutet ih- re Geste. Erst nach einer halben Stunde am Set lässt sie doch einen Assistenten einen Stuhl, ihren Stuhl holen. Sie hat einen eigenen, ein großes Schild mit ihrem Namen klebt an der Rückenlehne.
Sie möchte nur zuschauen, sagt Spiegel, aber sie gehört zur Mannschaft. Während der Regieassistent den Komparsen erklärt, wo sie zu stehen, wo entlang sie zu laufen haben, spricht Regisseur Boeken mit ihr. Niemand könnte besser ausdrücken, was sie damals erlebt hat, was sie empfunden hat. So wie bei jenem Weihnachtsfest 1944, das nun vor der kunstschneeumflockten Billerbecker Kirche ein zweites Mal begangen wird. Fühlte sie sich sicher im Schoß der frommen Beschützer, der Bauernfamilie Aschoff? Damals wagte sich Marga Spiegel als Frau Krone einige Male aus ihrem Hofversteck, anders als ihr Ehemann Sigmund, der seine Tage in einem Verschlag hinter einer Holzklappe zubrachte – getrennt von Frau und Kind auf dem Hof der Familie Pentrup. Doch die Gefahr lauerte überall, auch in dieser Filmszene. Ein finster dreinblickender Polizist schreitet im dunkelgrünen, wadenlangen Wintermantel mit Reichsabzeichen zur Weihnachtsmesse. Lässt er sich täuschen? Wie jener anfangs misstrauische Wachtmeister in der Buchvorlage, der schließlich Spiegels kleine Tochter Karin auf den Schoß nimmt, ihre blonden Zöpfe streichelt und sagt: »Du bist doch wirklich ein richtiges deutsches Mädchen.«
Nach außen wirkt Marga Spiegel souverän. Doch es fällt nicht leicht, all das Erlebte noch einmal vor Augen zu haben: die Kostüme, die Stimmung, die Uniformen, das Hakenkreuz. »Es ist sehr schwer, diese Bilder wieder zu sehen«, sagt Spiegel. Vor einigen Tagen kam in einer Drehpause ein Komparse auf sie zu und fragte, ob sie ihm eine Widmung in ein soeben gekauftes Exemplar ihrer Erinnerungen schreiben würde. Lächelnd stand er vor ihr, ein hoch- gewachsener junger Mann, mehrere Köpfe größer als sie, in einer schwarzen SS-Uniform. Sie ließ sich nichts anmerken. Auch die Schauspieler erleben beklemmende Momente. So wie zu Beginn der Dreharbeiten, als sie in nachgebauten Baracken filmten, so wie jene in Dortmund, in denen die Familie Spiegel vor dem rettenden »Ja, wir helfen euch« der Bauern auf ihr Schicksal warteten. »Das war für alle im Team schwer«, sagt Regisseur Boeken.
Marga Spiegel ringt mit den eigenen Erinnerungen, dazu kommen die vielen Fragen der Presse. »Sie meistert all das glänzend«, findet Karl-Heinz Volkert. Der Mann mit der deutsch-israelischen Flagge am Revers seines hellen Jacketts ist seit Jahrzehnten mit Spiegel befreundet. Er begleitet sie am Drehort. Anfang der 60er-Jahre kaufte er ihr ein Tonbandgerät und bat sie: »Besprich es mit deinen Erinnerungen.« Anfangs widerstrebend, gab sie ihm dann Band um Band, randvoll mit Ängsten, Sorgen und Hoffnungen aus jener Zeit, als sie um das Leben ihrer Familie bangte. Daraus entstand ihr Buch. »Danach war sie fertig«, erinnert sich Volkert. Wollte nichts mehr davon hören, nicht mehr daran denken. »Erst nach und nach wuchs der Stolz in ihr.« Mit ihren Lebenserinnerungen im Gepäck besucht sie seit Jahren Schulklassen. Sie liest daraus vor, will aufklären, warnen.
Marga Spiegel möchte die Geschichte von einfachen Bauern erzählen, »die aus Güte und Anstand drei Menschen das Leben retteten«, erklärt sie. »Dabei haben sie ihr eigenes Leben riskiert.« Den Bauernfamilien, zumindest den Vätern, drohte ebenfalls die Deportation, hätte sie jemand verraten. Spiegel empfindet gegenüber ihren Rettern »unendlichen Dank«. Im Frühjahr 1965 überreichte der israelische Botschafter Asher Ben-Natan den Familien Dankesurkunden. In der Gedenkstätte Yad Vashem stehen die Namen der Retter: Hein- rich Aschoff, Hubert Pentrup, Bernhard Südfeld, Heinrich Silkenböhmer und Bernhard Sickmann. Aber nicht nur sie halfen. Der Spitzelapparat der Nazis versagte. Auf dem Land kennt jeder jeden. Doch in Herbern, Nordkirchen oder Südkirchen, den realen Orten der Geschichte, galt: Das Dorf hält dicht. Ein Wunder?
Der ländlich geprägte Landkreis Coesfeld ist tief katholisch. Noch bei der Reichstagswahl am 5. März verlor die NSDAP hier haushoch gegen die Zentrumspartei. Seit Jahrhunderten ragen die Zwillingstürme des Ludgerus-Doms über Billerbeck, mahnen weit über das sanft geschwungene Umland der »Baumberge« hinweg sichtbar christliche Werte an. Das wohl wichtigste Gebot: Nächstenliebe. Als Kriegskamerad Sigmund Spiegel seinen Freund Pentrup um Hilfe bittet, sagt dieser laut Spiegels Buch: »Komm zu mir, ich verstecke dich.« Das fromme Münsterland als Rettungsinsel in einem Reich, das im hasserfüllten Rassenwahn der Nazis versunken war.
»Hier ist etwas Außerordentliches passiert«, findet Filmproduzent Joachim von Mengershausen. Seit Jahren kämpfte der ehemalige WDR-Redakteur um die Verfilmung des Buches. Am Ende stand das knappe Budget, vier Millionen Euro für einen historischen Film mit Kostümen, Komparsen und nachgebauten Schauplätzen. »Es ist eng«, sagt von Mengershausen. Pannen können sie sich nicht leisten. Spätestens im April 2009 soll der Film in die Kinos kommen, hofft Mitproduzent und Filmverleiher Werner Wirsing. Gut eine Million Euro zahlt die Filmstiftung Nordrhein-Westfalens. Deren Geschäftsführer Michael Schmid-Ospach hatte vor einigen Tagen CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers am Telefon, der sich nach dem Gang der Dreharbeiten erkundigte.
Leicht ließe sich diese Geschichte instrumentalisieren, als Heldenepos tapferer westfälischer Bauern, die etwas moralischen Ballast von der deutschen Seele heben. Es wäre einfach, die »Geschichte von den guten Deutschen und den bösen Deutschen« zu erzählen, sagt Regisseur Ludi Boeken. »Diese Diskussion haben wir lange geführt und dann beiseite geschoben. Es geht nicht um Politik, sondern um die tiefe Menschlichkeit und den Mut der Bauern in dieser Geschichte.«
Die Figuren im Film sind keine Heiligen. Sie tragen schwer an ihren Entscheidungen. An einem Punkt will die Bäuerin Aschoff, krank vor Sorge um ihre acht Kinder, die Jüdin Spiegel und ihre Tochter vom Hof schicken. Anni Aschoff, eine der Töchter auf dem Hof, ist glühende Hitler-Anhängerin, bis sich ihr die Freundin Marga als Jüdin offenbart. Doch alle schweigen. Im Mai 1945 marschieren britische Soldaten in das Münsterland ein. Die Gefahr ist vorbei. »Vielleicht war das ›Ja‹ zur Hilfe schneller als das zögerliche Nachdenken, vermutet Schauspieler Martin Horn, der den Bauern Aschoff spielt. Ob er auch so gehandelt hätte? Horn überlegt. »Das kann man nicht wissen. Ich würde es mir aber wünschen.«

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