Maya Turovskaja

»Meine Liebe ist die Poesie«

Heute bin ich gar nicht draußen gewesen. Es ist zu heiß, ich ertrage Hitze sehr schlecht. Für mich sind 14 Grad und Regen besser. Ich habe den ganzen Tag gelesen: Erzählungen aus Kolyma von Varlam Schalamov. Im Jahr 1937 wurde er verhaftet und musste fast 20 Jahre in einer Goldmine unter schrecklichsten Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Seine Erfahrungen sind so furchtbar, dass man sich das kaum vorstellen kann. Er ist ein sehr guter Schriftsteller: Er schreibt sehr präzise, ohne sentimental zu werden.
Ich bin promovierte Film- und Theaterwissenschaftlerin. Die 30er- und 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts sind Schwerpunkt meiner Arbeit. Bei Michail Romms Film Der gewöhnliche Faschismus, der 1965 entstand, arbeitete ich am Drehbuch mit. Der Film beschäftigt sich mit der totalitären Vergangenheit – gezeigt werden Szenen aus Nazi-Propaganda-Filmen. Filme, die zu jener Zeit in der Sowjetunion entstanden, verwenden eine ähnliche Bildsprache. Dies zu vergleichen, hat mich schon immer fasziniert. Ich schaue auch gerne amerikanische Spielfilme aus der Zeit an. Den Fernseher schalte ich aber immer erst abends ein. Oft sehe ich mir dann auch Dokumentationen an.
Vergangenen Samstag war ich wie beinahe jeden Samstag auf dem Flohmarkt. Auf meine alten Tage – ich bin jetzt 82 Jahre – bin ich noch zur Sammlerin geworden. Das hat mich früher überhaupt nicht interessiert. Aber jetzt stöbere ich stundenlang nach Gegenständen aus den 30er-Jahren im Miniatur-Format: Besonders stolz bin ich auf eine kleine Fachkamera und einen Billardtisch, aber ich sammle auch verschiedene Grammofone und Bügeleisen oder Musikinstrumente aus der damaligen Zeit.
Ich beobachte gern das Alltagsleben der Menschen. Seit zwei Jahren lebe ich nun in dieser Wohnung direkt am Münchner Viktualienmarkt. Der Markt ist mein Haustheater: Ich sitze oft am Fenster und schaue lange hinaus. Ich fühle mich dann wie in einem Bild von Pieter Breughel d.Ä.. Ich sehe morgens nicht nur nach dem Wetter, sondern ich schaue, was die Leute dort unten machen. Das ist für mich das Leben.
In der Regel stehe ich morgens um acht Uhr auf. Zum Frühstück gibt es Kaffee und Schichtkäse oder Porridge mit Kaffee und Käse, generell esse ich aber nicht viel, weil ich schon so alt bin.
Dann mache ich meine Anrufe oder bekomme Anrufe. Mein Sohn, meine Schwester, meine Nichte leben alle in München. Und wie alle Russen telefoniere ich sehr gern und viel. Meine Freunde und Kollegen leben in der ganzen Welt verstreut, in New York, Boston oder Los Angeles, in Moskau, Köln oder Berlin. Meine Schwester nennt mir Telefonnummern zum billig Telefonieren, dann kann ich mit allen sprechen. Sie selbst ruft mich meistens morgens an, ein Kontrollanruf, weil ich allein lebe. Mein Mann ist schon vor vielen Jahren gestorben. Nach den Anrufen gehe ich einkaufen, es gibt hier mehrere Supermärkte in der Nähe oder ich gehe auf den Markt. Ich liebe Suppen: Gestern habe ich eine Rote-Bete-Suppe gekocht, ich koche aber auch gerne Hühner-Bouillon oder Borschtsch. Eine Suppe reicht mir dann als Mittagessen für ein paar Tage.
Meinen Alltag verbringe ich meistens mit Lesen und Schreiben. Ich habe mein ganzes Leben lang freiberuflich gearbeitet, auch in Moskau, wo ich aufgewachsen bin und studiert habe, obwohl es freiberufliche Arbeit in der Sowjetunion streng genommen gar nicht gegeben hat. Ich schrieb Artikel für film- und theaterwissenschaftliche Fachzeitschriften, Kritiken, Rezensionen. Auch heute verdiene ich meinen Lebensunterhalt selbst, ich will kein Geld vom Staat: Ich verfasse Artikel, nehme an Symposien und Tagungen teil, oder spreche beispielsweise vor Studenten über den russischen Film. 1992 bin ich nach Deutschland gezogen, aber danach war ich ein Jahr in Amerika, dann zurück in Deutschland, dann wieder in Amerika. Damals bin ich sehr viel gereist, es gab viele Konferenzen und Symposien, das war die Zeit, als das Interesse im Westen für Russland sehr groß war. Das hat heute etwas nachgelassen.
So um vier, fünf Uhr nachmittags mache ich meist einen Spaziergang oder setze mich ins Café. Früher war ich oft im Englischen Garten, jetzt bleibe ich mehr im Zentrum, denn ich kenne meine neue Umgebung noch nicht so gut, ich bin geografisch eine Null. Wenn man nach rechts gehen soll, gehe ich garantiert nach links.
Theater besuche ich kaum noch, weil ich so schlecht höre. In der Oper ist das besser. Mit meiner Freundin Rosemarie Tietze, die auch meine Übersetzerin ist, war ich vor zwei Tagen in Intolleranza 1960 von Luigi Nono. Das ist zeitgenössisches Musiktheater. Zum Glück ist hier alles in der Nähe: Ich ging nämlich zuerst ins falsche Opernhaus, ins Nationaltheater. Dort war aber alles zu. Da war mir klar, dass die Vorstellung wohl im Theater am Gärtnerplatz sein musste. Aber es war kein Taxi in der Nähe, also bin ich zu Fuß dorthin spaziert. Das ist alles so nah, dass ich sogar noch einigermaßen pünktlich angekommen bin. Wenn man alt ist, sollte man möglichst zentral wohnen.
Derzeit bereite ich zwei Projekte vor: Zum einen möchte ich eine Biografie über Olga Knipper-Tschechowa schreiben. 2005 habe ich mit Renata Helker die Ausstellung »Die Tschechows. Wege in die Moderne« im Theatermuseum München organisiert. Sie war Kuratorin, ich habe sie beraten und die Verhandlungen mit Moskauer Museen und Archiven geführt, denn von dort Leihgaben zu erhalten ist nicht so einfach. Neben Fotos und Dokumenten gab es Devotionalien zu sehen: der Spazierstock und das Schreibset Anton Tschechows und Theaterkleider seiner Frau. Als ich jung war, habe ich ein Buch über Olga Knipper geschrieben. Jetzt möchte ich ein zweites Buch über sie schreiben: Ihre Lebensgeschichte und die Geschichte des ganzen Familienclans um sie herum. Dafür brauche ich viel Zeit. Wer weiß, wie viel ich noch habe. Das andere Projekt ist eine Ausstellung über das Alltagsleben der 30er-Jahre. Aber es braucht sehr viel Energie, um so etwas anzukurbeln. Ich weiß nicht, ob ich das noch schaffe. Ich lebe jetzt von einem Tag auf den anderen.
Vor Kurzem gab es in ein paar Hinterhöfen nahe des Sendlinger Tors einen privaten Flohmarkt und eine Art Hoffest dazu. Kinder sprangen herum, die Menschen hatten Zeit und feierten fröhlich miteinander. Einige Leute verkauften günstig Sachen, die sie nicht mehr brauchten. Die Stimmung war gelöst und heiter. Das gefiel mir besonders gut, denn so ein ungezwungenes Miteinander erlebe ich sonst nicht – und es fehlt mir. Früher gab es in Moskau so eine spontane Gastlichkeit, heute findet man das aber dort auch nicht mehr. Hier spreche ich ja mit den Leuten auf der Straße so gut wie nie und auch im Haus habe ich kaum Kontakte. Jeder bleibt für sich. Dass es so etwas wie dieses Hoffest auch in Deutschland gibt, freut mich sehr.
Zum Symposium nach Konstanz, zu dem ich eingeladen war, bin ich nicht gefahren, man kommt nur mit dem Zug dorthin und muss dreimal umsteigen, das ist mir zu beschwerlich. In Köln habe ich viele Bekannte, mit der Witwe von Lew Kopelew, mit dem ich befreundet war, telefoniere ich oft. Einmal, auf einer Reise nach Köln, sprach mich ein etwa 40-jähriger Mann an, ob ich russisch spreche. Und wir haben geplaudert, der Zug fuhr die ganze Zeit am Rhein-Ufer entlang. Man sah die Burgen, die dort standen, und plötzlich, ich weiß nicht wie das passierte, fiel mir Wort für Wort das Heine-Gedicht »Die Loreley« ein:
»Ich weiß nicht was soll es bedeuten,
Daß ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.«
Von Anfang bis zum Ende. Der Mann im Zug sagte mir, dass wir jetzt am Loreley-Felsen vorbeifahren und dann erinnerte ich mich, dass es in dem Buch, in dem das Gedicht stand, eine Zeichnung von der Loreley gegeben hatte. Ein Buch, das ich in meiner Kindheit in Moskau betrachtet hatte. Das ist meine ganz große Liebe – die Poesie. Das Schreiben hingegen ist für mich Arbeit. Ich schreibe überhaupt nicht gern. Aber ich bin es seit vielen Jahren gewohnt. Und schließlich verdiene ich so mein Geld.

Aufgeschrieben von Vera von Wolffersdorff

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