Schloß

Mein Schloss, meine Sauna, meine Steigung

von Jonathan Garfinkel

Deutschland meint es gut mit mir. Ich lebe hier in Schwabens Metropole nicht in irgendeiner durchschnittlichen Mietwohnung. Nein, ich wohne in einem richtigen Schloss.
»Mein« Schloss heißt Schloss Solitude. Eigentlich wurde es im 18. Jahrhundert als Jagd- und Repräsentationsschloss von Herzog Karl Eugen erbaut. Etwa 50 Kilometer von seinem Hauptsitz in Ludwigsburg entfernt, war es Sommerresidenz und Party-Palast. Hier gab der recht vergnügungssüchtige Fürst verschwenderische Feste, zu denen die Gäste in Pferdekutschen herangeschafft wurden. Heute dienen vor allem die Nebengebäude des Schlosses der internationalen Künstlerförderung. Als »Akademie Schloss Solitude« sind sie jetzt Arbeits- und Wohnräume für »besonders begabte« Kreative. Alle zwei Jahre beantragen etwa 2.000 junge Leute einen längerfristigen Aufenthalt hier; 50 bis 60 werden ausgewählt. Meine Bewerbung als Schriftsteller wurde angenommen, und ich erhielt für zwölf Monate Studio und Wohnung, inklusive Stipendium.
Das Leben hier ist ziemlich, wie soll ich sagen, mondän. Von der Stuttgarter City sind es 30 Minuten zum Schloss. Es liegt inmitten von Wäldern auf einem Höhenzug, von wo man einen herrlichen Blick auf das württembergische Umland hat. Es ist ruhig, und ich schlafe gut. Ich schreibe und lese in meinem Studio, die Abende verbringe ich mit Künstlern aus aller Welt. Der Kühlschrank ist voll mit deutschem Bier. Ich gehe im Wald spazieren und schreibe Gedichte auf Birkenrinde. Na ja, nicht ganz, aber die Zeit zu lesen, zu schreiben und sich mit anderen Kreativen zu unterhalten, ist von unschätzbarem Wert. Das Erstaunliche ist, dass dieser internationale Aufenthaltsort von der baden-württembergischen Regierung finanziert wird. Ich kenne nicht viele Länder, wo der Staat 1,5 Millionen Euro für eine Einrichtung ausgibt, in der Künstler aus aller Herren Länder den lieben langen Tag nichts anderes als Kunst machen.
Obwohl meistens gearbeitet wird, besteht unser Leben hier nicht nur aus Schuften. Stipendiaten stellen ihre Projekte vor: Lesungen, Filmvorführungen, Konzerte und Kunstfestivals, die auch von neugierigen Stuttgartern besucht werden. Eine Fußballliga wurde gegründet und der aus San Francisco stammende Künstler Josh Greene und ich haben den Jüdischen Joggingverein ins Leben gerufen. Mitgliederzahl derzeit: zwei. Wenn also mein Kumpel Josh und ich in Ausübung unserer speziellen Verbandsaktivität auf Waldpfaden entlanglaufen, dann reden wir über alle möglichen Dinge: Liebesdinge, Kunstdinge und jüdische Dinge.

Josh: Hey.
Ich: Hey.
Josh: Weißt du, seit ich in Deutschland bin, denke ich viel darüber nach, was es heißt, jüdisch zu sein.
Ich: Ah ja.
Josh: Ich will meine Barmizwa haben.
Ich: Du bist 38. Ist das nicht ein bisschen alt für eine Barmizwa?
Josh: Darum geht’s ja gerade. Als Kind habe ich es verpasst, und jetzt würde ich gern Barmizwa feiern.
Ich: Interessant. Willst du einen Rabbi anheuern und die Tora studieren?
Josh: Nein. Ich will zusammen mit den 13-Jährigen zum Barmizwa-Unterricht. Ich habe wirklich das Gefühl, etwas ver-säumt zu haben.

Zugegeben, das klingt ein bisschen wie der Anfang eines jüdischen Witzes: Laufen zwei Juden durch den deutschen Wald …
Josh und ich sind beide Gewohnheitstiere, auch heute weichen wir nicht von unserer üblichen Route ab. Wir keuchen und schnaufen einen kleinen Hang hinauf, biegen nach rechts in einen schmalen Waldweg ein, umrunden Pfützen und Schlammlöcher, auf dass unsere Turnschuhe nicht nass und schmutzig werden. Eine Gruppe deutscher Jogger begegnet uns, und wir nicken: »Guten Tag!«

Ich: Seltsam, wenn man bedenkt, dass wir vor 65 Jahren vor den Deutschen davongelaufen wären.
Josh: Da hätten wir wesentlich schneller sein müssen als jetzt.

Wir laufen eine Weile schweigend nebeneinander her, und ich denke an die Ge- spenster, die einem in Deutschland zuweilen begegnen – Erinnerungen, geweckt von jüdischen Museen, Synagogen und Friedhöfen; Gedenksteine und -plaketten auf Bürgersteigen und in Parks; die Gesichter von alten Deutschen auf der Straße (was haben die wohl im Krieg gemacht?). Und ich denke an den großen »Schwitz«, den ich später am Tag im Leuze, einem Mineralbad in Stuttgart, haben werde. Ich bin mittlerweile süchtig nach Sauna und Aufguss.
Als ich meiner Mutter erzählte, dass ich nach Deutschland gehen würde, um dort in einem Schloss zu wohnen, war sie stolz auf ihren Sohn. Als ich sie einige Monate später anrief und ihr von meinem Deutschunterricht erzählte, fand sie es ein biss-chen sonderbar, aber okay: Es ist gut, dass er die Sprache des Landes lernt, in dem er lebt. Als ich ihr ein paar Wochen später sagte, dass es mir viel Spaß macht, Deutsch zu sprechen, dachte sie, ich würde einen Witz machen. Als ich ihr im gleichen Gespräch erzählte, dass ich gerne hier lebe und daran denke, nach Berlin zu ziehen, herrschte eisiges Schweigen am anderen Ende der Leitung.

Ich: Hallo?
Mom: Ich bin noch da.
Ich: Stimmt was nicht?
Mom: Nein, nein. Es ist nur …
Ich: Es ist nur was?
Mom: Es ist Deutschland.
Ich: Ja. Deutschland ist echt cool.

Ein einziges Mal ist meine Mutter in Deutschland gewesen – sie musste auf ihrem Weg nach Israel in München das Flugzeug wechseln. Für sie ist Deutschland das Land, dessen Unternehmen nach dem Krieg von Juden boykottiert wurden – Mercedes, Bayer, Hugo Boss. Juden in ihrem Alter zogen vor 30 Jahren nicht nach Berlin, wie sie es heute in immer größerer Anzahl tun, vor allem Juden aus Israel und New York. Und Juden in Mutters Alter rühmten Deutschland nicht für das faszinierende Zusammenfließen unterschiedlicher Strömungen – künstlerischer, politischer und historischer.
Mom: Ein Zusammenfließen von was? Wohl doch eine Generationsfrage.

Josh: Findest du es sonderbar, in Deutschland zu leben?
Ich: Eigentlich nicht. Obwohl die Tatsa-che, dass es nicht sonderbar ist, an sich schon wieder sonderbar ist.
Josh: Ich weiß, was du meinst. Ich fühle mich hier hundertprozentig wohl.

Wir kommen aus dem Wäldchen und laufen jetzt einen Feldweg entlang.

Ich: Berlin ist cool.
Josh: Ich kann mir dich gut in Berlin vor-stellen.
Ich: Ja, ich fühle mich wohl hier. Auch wenn es nicht richtig ist, dass ich mich wohl fühle, fühle ich mich wohl.
Josh: Ich kann dir nicht folgen.

Ich versuche, es ihm zu erklären. Wie gesagt, Deutschland meint es gut mit mir. Zum einen das Schloss. Und dann wurde mein neues Stück vor Kurzem im Bochumer Schauspielhaus erstaufgeführt. Es hat den Titel Das Haus der vielen Zungen und handelt vom Konflikt in Israel und Palästina. Dass ein deutsches Theater das Stück inszeniert, zeugt von Mut, wenn man bedenkt, wie heikel die Beziehung zwischen Deutschland und Israel ist – eine Beziehung, in der ein Partner den anderen nicht kritisieren darf. Während das Stück beim besten Willen nicht antiisraelisch ist, handelt es sich aber auch nicht um ein simples, unbekümmertes Ringelreihen für das zionistische Ferienlager. Was die Sache noch komplizierter macht, ist die Tatsache, dass Das Haus in einem absurden, magisch-realistischen Stil geschrieben ist, mit viel schwarzem Humor – bei der Premiere machte die palästinensische männliche Hauptfigur einen Witz über den Holocaust und sagte: »Das kommt immer gut.« Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass niemand im Publikum lachte. Ein recht unbehaglicher Moment. Die angespannte Stille war förmlich mit Händen zu greifen. Dennoch hatte ich das Gefühl, dass etwas sehr Deutsches an diesem Erlebnis war: Was ich am Theater, wie ich es hier kennengelernt habe, so schätze und bewundere, ist die Fähigkeit, Grenzen zu verschieben, Fragen zu stellen, das Publikum herauszufordern. In gewissem Sinne schien die Performance meines Stückes eine ganz normale deutsche Erfahrung zu sein: Es ging bis an die Grenze des dem Zuschauer Zumutbaren. Vielleicht aber auf eine Art, an die er nicht hundertprozentig gewöhnt ist.
An einem Abend las ich nach der Aufführung aus meinem Buch Ambivalence, einem Tagebuch über meine Reisen in Israel und im Westjordanland, die ich unternahm, um den Hintergrund für Das Haus der vielen Zungen zu recherchieren. Der Kern der Story basiert auf einer wirklichen Geschichte über ein Gebäude in Jerusalem, das von einer israelischen und einer palästinensischen Familie bewohnt wird. Eine kleine Gruppe von Leuten aus dem Rhein-Ruhr-Gebiet versammelte sich und hörte zu, auch, als Regisseur Kristo Sagor mich interviewte. In ihren Fragen und dem vorsichtig geäußerten Interesse spürte ich ein Gefühl der Erleichterung darüber, dass es erlaubt war, Bedenken gegen die Besetzung des Westjordanlandes und die damit verbundenen zwiespältigen Gefühle zu äußern. Sie selbst konnten es nicht aussprechen, aber wenn ein Jude aus Nordamerika das tat, war es okay.

Josh: Das Stück hat den Leuten gefallen?
Ich: Ich glaube, ja. Am Abend der Pre-miere haben sie überhaupt nicht gelacht. Aber ich ging ein paar Wochen später noch mal hin, nachdem Rezensio-nen erschienen waren, in denen stand, wie clever und der Problematik ange-messen der Humor auf der Bühne war. Die Menschen haben vor Vergnügen lauthals gelacht.
Josh: Vielleicht brauchten sie die Erlaub-nis, lachen zu dürfen. Das Gefühl, dass es koscher ist. Weißt du, was ich meine?

Ja, ich weiß. Die Deutschen sind bei diesen Dingen zu Recht empfindlich. Das ist auch ein Grund, warum ich die Schauspielertruppe und das Theater dafür bewundere, das Stück auf die Bühne gebracht zu haben. Jede Theaterproduktion bedarf der Diskussion, der Kritik und Analyse. War es den deutschen Schauspielern und dem Regisseur leichtgefallen, sich mit den Themen, die Das Haus auslotet, auseinanderzusetzen – Fragen zu Landrechten und Enteignung, Rassismus, zur Rolle, die der Holocaust bei der Gründung Israels spielte? Ich kann es mir nicht vorstellen.
Gewiss, diese Dinge sind alles andere als unkompliziert – solche Begegnungen mit der Geschichte sind anstrengend, schwierig und hoffnungslos verwickelt. Viele Deutsche in meinem Alter, die ich in den acht Monaten des Aufenthalts kennengelernt habe, waren schnell dabei zu betonen, dass ich der erste Jude sei, den sie je getroffen haben. Zuerst schreckte mich das ab – da ich aus Nordamerika komme, definiere ich mich nicht in erster Linie über mein Judentum. Niemand möchte der Vertreter einer ganzen Kultur, Geschichte oder Nation sein. Und anfangs fragte ich mich, ob hinter der freundlichen Begrüßung nicht eine Entschuldigung, hinter dem warmen Handschlag nicht ein »Schau, es tut mir leid, was mein Großvater gemacht hat« steckte.
Seither habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Gespräch sehr interessant werden kann, sobald diese anfängliche Befangenheit überwunden ist. Wir reden über den Holocaust. Und wir reden über die neuere deutsche Geschichte: die Baader-Meinhof-Gruppe, das Leben in der DDR, die Probleme der Wiedervereinigung, die aktuelle Rassismus-Diskussion und über eins meiner Lieblingsthemen: die Fußballbundesliga und wer besser ist – Schweinsteiger oder Podolski. Letztendlich sind es die Gespräche über Geschichte, die mich am meisten beeindrucken. Wenn ich mit deutschen Schriftstellern meiner Generation rede, merke ich, dass da ein historisches und politisches Bewusstsein vorhanden ist, das in den Bann zieht. Natürlich gibt es gute Gründe, weshalb die Deutschen besessen sind vom Thema Erinnerung und Erinnerungsarbeit. Wenn man bedenkt, was im vergangenen Jahrhundert hier abgelaufen ist, haben die Menschen meiner Generation eine ausgesprochen komplizierte Weltsicht geerbt. Vielleicht ist es die Konfrontation mit Geschichte, Krieg und Völkermord, die das zeitgenössische deutsche Theater und die deutsche Literatur derart offen und kämpferisch macht, auf eine Weise, wie ich es in Kanada nie kennengelernt habe. So, als gäbe es eine kulturelle Notwendigkeit dafür.
Josh und ich sind bei der letzten Steigung angelangt. Es sind nur noch 600 schnelle Meter bis zum Schloss. Und bald werden wir in unseren Räumen sein, wo wir Dehnübungen machen, duschen und uns wieder an die Arbeit setzen.

Josh: Sollen wir einen richtig jüdischen Sprint hinlegen?
Ich: Na klar.
Josh: Wer zuletzt am Schloss ist, kauft das Beck’s.

Der Autor, 35 Jahre alt, ist Schriftsteller, Theaterautor und derzeit Stipendiat der Akademie Schloss Solitude.

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