Miriam Solomon

»Mein Beruf wird mir fehlen«

Als ich 30 war, im Jahr 1974, bin ich mit meinem Mann und meinem Sohn aus Israel nach Hamburg gekommen. Hier gab es bessere Arbeitsmöglichkeiten für mich, zuerst als Kindergärtnerin, dann als Lehrerin in der jüdischen Gemeinde. Mittlerweile bin ich die Dienstälteste, Ende des Jahres gehe ich in Rente. Inzwischen arbeite ich im Friedhofswesen. Wir organisieren Beerdigungen und kümmern uns um die Grabpflege. Ich bin in der Verwaltung gelandet, weil der Unterricht an der jüdischen Schule eingestellt wurde. Inzwischen ist der Schulbetrieb wieder aufgenommen worden, heute lernen dort 40 Kinder.
Ich habe in Jerusalem Bibelwissenschaft und Hebräische Literatur studiert, um Lehrerin zu werden. Geboren wurde ich in Haifa. Meine Eltern stammen aus Deutschland, meine Mutter kommt ursprünglich aus Hanau, mein Vater aus Trier. Kennengelernt haben sich die beiden in Palästina. Meine Mutter hatte Deutschland schon 1935 verlassen, mein Vater kam drei Jahre später. 1941 haben sie geheiratet.
Auch wenn ich mir durchaus vorstellen könnte, zurück nach Israel zu gehen, mag ich Hamburg doch sehr. Ich habe einen guten Job, hier sind meine Freunde und meine Familie. Mein Sohn ist verheiratet, er arbeitet in der Werbung, meine Schwiegertochter auch. Seit knapp einem Jahr haben sie eine Tochter, meine kleine Enkelin. Da will ich doch in der Nähe bleiben. Aber ich fahre jedes Jahr einmal nach Israel, meistens im Juni, da hat meine Mutter Geburtstag. Mein Vater lebt nicht mehr, er ist vor über 20 Jahren gestorben.
Meine Arbeit für die Gemeinde gefällt mir. Morgens gehe ich zu Fuß dorthin, weil ich direkt um die Ecke wohne. Seit wir ins Hamburger Grindelviertel gezogen sind, hat sich die Gemeinde sehr ihrer Nachbarschaft geöffnet. Hier gibt es viel mehr Möglichkeiten als früher. Das Interesse an uns ist groß. Wir bieten Führungen durch das Gebäude an, in dem auch die Schule und der Kindergarten untergebracht sind.
Mein Job hier besteht zu einem großen Teil aus Büroarbeit. Der jüdische Friedhof in Ohlsdorf ist der wichtigste. Dann gibt es noch einige stillgelegte Friedhöfe in Hamburg, um die kümmern wir uns auch. Die Stadt pflegt das Gelände, wir übernehmen die Grabpflege, wenn die Angehörigen das möchten.
Im Sterbefall melden sich die Hinterbliebenen bei uns, der Verwalter muss Bescheid bekommen, ich organisiere den Transport zum Friedhof. Meine Kollegin sorgt dafür, dass mindestens zehn Männer für den Minjan anwesend sind. Natürlich muss ich auch den Rabbiner und den Kantor benachrichtigen. Der wichtigste Teil meiner Arbeit ist, den Angehörigen zu helfen. Viele wissen nicht, was sie tun müssen, wenn ein Familienmitglied stirbt, das ist eine schwere Zeit. Die Leute kommen zu mir, sitzen eine Weile und erzählen. Ich versuche, ihnen zur Seite zu stehen – mit praktischen Ratschlägen, aber auch seelisch. Besonders schwierig ist es für die vielen Zuwanderer. Bei denen kommt oft noch das Sprachproblem hinzu, dann hilft meine Kollegin bei den Behördengängen, sie spricht fließend Russisch.
Mehr als 80 Prozent unserer Gemeindemitglieder kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Viele haben nichtjüdische Ehepartner, für diese gibt es einen eigenen Bereich auf dem Friedhof. Wir versuchen, ihnen da entgegenzukommen. Oft sind es ältere Leute, die schon krank nach Deutschland kommen, besonders aus der Region von Tschernobyl. Manche sterben bald nach ihrer Ankunft. Es ist nicht einfach für sie, ohne Sprachkenntnisse, ohne Familie und Freunde in ein fremdes Land zu gehen. Und dann noch als alter Mensch, das finde ich schon mutig. Für die Partner dieser älteren Menschen ist es besonders schwer. Wir tun, was wir können, um ihnen zu helfen.
Neben der Arbeit bleibt mir wenig Zeit – fürs Einkaufen, für Freunde, Familie, meinen Mann. In der Freizeit lese ich sehr gern, zuletzt ein Buch von Martin Suter: Die dunkle Seite des Mondes. Sehr klug geschrieben. Mein Sohn hat es mir empfohlen. Der kennt meinen Geschmack, wir tauschen uns häufig aus. Ein sehr spannendes und wichtiges Buch ist auch Zu einer anderen Zeit von Amos Elon, das habe ich vor Kurzem gelesen.
Eine wichtige Aufgabe neben meiner Arbeit in der Friedhofsverwaltung sind die regelmäßigen Synagogenführungen. Meistens kommen Lehrer mit ihren Schülern, von der dritten bis zur dreizehnten Klasse ist alles dabei. Viele sind jedes Jahr wieder hier. Wir haben schon Monate im Voraus keine Termine mehr frei, so groß ist die Nachfrage. In der Regel legen wir sogar Klassen zusammen, um alle unterzubringen. Für die Kinder ist das spannend, sie können mal eine Synagoge von innen sehen. Das Feedback ist sehr gut, es kommen auch Kirchengemeinden oder Studentengruppen, nicht nur aus Hamburg, sondern auch von auswärts.
Mir macht das großen Spaß, weil man dabei auf so unterschiedliche Menschen trifft und verschiedene Perspektiven kennenlernt. Gerade bei den älteren Besuchern gibt es oft Vorurteile. Viele müssen eine Hemmschwelle überwinden. Es freut mich, wenn besonders sie sich trauen, das Judentum kennenzulernen. Früher war die jüdische Kultur in Deutschland viel mehr ein Teil des Alltags, damals kannten die Menschen zumindest die Feiertage und ihre Bedeutung. In vielen anderen Ländern, besonders in Amerika, ist das auch heute noch so. Vor einigen Jahren war ich mit meinem Mann in Kalifornien und in Florida, da sahen wir überall »Happy Hanukkah«-Schilder in den Supermärkten. Hier ist so viel verloren gegangen. Deutschland ohne Juden ist ein armes Deutschland.
In meinen Führungen versuche ich, politische Fragen nur am Rande zu beantworten. Mir ist es wichtiger, den Besuchern das Judentum näherzubringen. Wenn man die Religion besser versteht, kann man auch andere Dinge kritischer beurteilen. Viele Deutsche wissen sehr wenig über Israel. Das ärgert mich manchmal, gerade weil die Presse hierzulande häufig sehr einseitig ist. Oft würde ich gern sagen: Fahrt doch erst mal selbst nach Israel, bevor ihr euch eine Meinung bildet.
Mein Beruf ist sehr vielseitig. Ich arbeite 25 Stunden in der Woche, montags und dienstags Vollzeit und am Donnerstag und Freitag nur bis eins. Außer, wenn ich Synagogenführungen mache, die sind manchmal auch am Sonntag oder ganz spontan angesetzt. Hin und wieder kommen auch Schüler zu mir, die über ein jüdisches Thema schreiben müssen. Mit denen setze ich mich dann hin, sie fragen mich, und ich erzähle ihnen etwas über das Judentum.
Ende nächsten Jahres gehe ich in Rente. Meine Arbeit wird mir sehr fehlen. Ich versuche, den Gedanken daran noch ein wenig zu verdrängen. Das wird ein komisches Gefühl sein, nicht mehr zur Arbeit zu gehen. Aber wenigstens kann mich dann meine Schwiegertochter als Babysitter mehr in Anspruch nehmen.

Aufgezeichnet von Moritz Piehler

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