von Carsten Hueck
Wer bei Wikipedia »Lemberg« eingibt, erfährt als Erstes, dass die Stadt ukrainisch Lwiw und polnisch Lwów heißt. Auch die russischen, jiddischen, weißrussischen und lateinischen Namen sind aufgeführt. Lemberg, ursprünglich polnisch, gehörte ab 1772 zum Habsburgerreich. Polen, Ukrainer, Russen, Deutsche, Armenier und viele Juden lebten dort. Nach dem Ersten Weltkrieg wechselten die Herrscher in rascher Folge: erst Polen, dann Nazideutschland, dann die Sowjetunion. Seit 1991 gehört die Stadt zur Ukraine. 2012 wird sie ein Austragungsort der Fußballeuropameisterschaft sein. Fans werden den Ort dann auf der Landkarte suchen.
Einen bescheidenen Orientierungsversuch vorab wagt eine Ausstellung im Berliner Centrum Judaicum. Ihr Titel »Wo ist Lemberg?« macht die Leerstelle zum Konzept. Die Ausstellungsmacher Irene Stratenwerth und Ronald Hinrichs möchten nicht das Bild der Stadt als Zentrum ostjüdischer Kultur reproduzieren. Stattdessen betonen sie Lembergs kulturelle Vielfalt. An der Schau beteiligt sind auch Künstler, Wissenschaftler und Journalisten aus Lwiw, »die besten Köpfe Lembergs«, wie Stratenwerth stolz verkündet.
Drei Räume umfasst die Ausstellung. Ihre Gestaltung vermittelt den nachhaltigen Eindruck, dass sich Lwiw im Umbau befindet. Das alte Lemberg ist zerstört, verloren, unkenntlich gemacht. Seine jüdischen Bewohner wurden ermordet, die polnischen zwangsumgesiedelt. Lemberg muss sich neu erfinden – diesen Eindruck erweckt die Ausstellung. Doch wie beginnen, mit wem und was?
Wo Kohärenz fehlt, bilden sich Leerstellen, sammelt sich Beliebigkeit. Betritt man den ersten Raum, kommt man sogleich vor einer großen Filmleinwand zum Stehen. Menschen kommen einem dort entgegen. Mitgehen kann man nicht, dann würde man ja wieder rausgehen. Also weicht man aus in den Nachbarraum. Fotografien von Suzanna Lauterbach hängen an der Wand, farbige Stadtimpressionen, Lwiw 2007: alte Häuser, alte Autos, neue Bauzäune, neue Autos, etwas Grün, das ist schön. Gegenüber eine weitere Filmprojektion: laufende Bilder, farbige Stadtimpressionen, Lwiw 2007. An der Wand Kopfhörer. Zu hören sind Lemberg-Texte des ukrainischen Autors Juri Andruchowytsch. Davor wieder Fotografien von Suzanna Lauterbach, schwarz-weiße Stadtimpressionen, Lwiw 1992. Leider ohne Grün.
Lebensgroße Fotoporträts zeigen ehemalige Lemberger, die jetzt in Berlin leben. Liest man die Texte auf der Rückseite, kann man denen, die hier von Vertreibung und Antisemitismus und Heimat berichten, nicht mehr ins Gesicht sehen. Und so wendet man sich ab in den dritten Raum. Er ist abgedunkelt. Zwölf »Bausteine« stehen hier, die ein bisschen aussehen wie gestapelte Umzugskartons. Da und dort ragt etwas heraus, ein Kopfhörer, eine Schublade, eine Fotografie. Letztlich: eine Information. Hier schimmert Lembergs Vergangenheit dann doch ein bisschen hinter den Leuchttafeln hervor. Zum Beispiel historische Aufnahmen eines polnisch-jüdischen Radio-Kabarettistenduos aus den 30er-Jahren. Am Rande installiert: Bücherstapel, die an den einzigartigen Lemberger Büchermarkt und an Autoren der Stadt erinnern: Józef Wittlin, Stanislaw Lem, Kusniewicz oder Ljubko Deresch. Alle scheinen – geht es nach den gezeigten Ausgaben – auf Deutsch zu schreiben. Wo bleibt die Vielsprachigkeit, die die Ausstellung doch demonstrieren möchte? Sind die Originalausgaben alle vergriffen?
Und dann ist da noch eine nachgebaute Klagemauer. In ihren Ritzen stecken Fototafeln. Sie zeigen Orte ehemaligen jüdischen Lebens in Lemberg. An dieser Stelle ist die Ausstellung ganz bei sich selbst. Sie entschlüsselt sich als Auslassung. Als überdimensionale Ritze.
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