austritte

Leerstellen

Olga B. ist vor sieben Jahren nach Karlsruhe gekommen. Die promovierte Ingenieurin aus Moskau hat inzwischen eine Anstellung bekommen, ihr 15-jähriger Sohn be- sucht ein Gymnasium, auch ihr Mann Alexej verdient mit. Die Familie ist in Deutschland angekommen. Alle waren sie Mitglieder der jüdischen Gemeinde, doch nur Mut- ter Tsilya nutzte regelmäßig das Seniorenangebot. Vor einem Jahr ist sie gestorben. Nach der Barmizwa hat Sohn Andrej den Kontakt zur Gemeinde verloren. Nun will die Familie die Gemeinde verlassen.
Ein Einzelfall? Nein, beklagen viele jüdischen Gemeinden in Deutschland. Auch wenn die Gemeindeaustritte nicht massenhaft sind, so seien sie doch schmerzlich spürbar. Arieh Rudolph geht von einem Prozent aus. Die Dunkelziffer sei aber sicherlich höher, sagt der Chasan der Jüdischen Gemeinde Bamberg. Selten käme jemand ins Gemeindebüro und bekenne offen, dass er austreten wolle, um Geld zu sparen. Für Rudolph kein trifftiges Argument. Die Mitglieder mit Grundsicherung zahlen keine Kultussteuer und der Mitgliederbeitrag sei in solchen Fällen gering.

Vernetzungen Für Austritte macht Rudolph die mangelnde Infrastruktur verantwortlich. Diese wiederum sei Folge fehlender Absprachen und Vernetzung der Ge- meinden untereinander. »Nicht jedes Mal muss das Rad neu erfunden werden. Doch Verabredungen funktionieren ein-, zweimal, dann verläuft alles wieder im Sande.« Es müsse eben auch Leute geben, die sich um diese Kontakte kümmern, und hier sind viele Gemeindemitarbeiter überfordert. Rudolph ist neben seiner Kantorentätigkeit noch verantwortlich für Jugendarbeit, das jüdische Lehrhaus, die Chewra Kadischa.
Ruth Röcher, Gemeindevorsitzende in Chemnitz, kennt nur ein wirksames Mittel gegen Austritte: »sehr gute Kinder- und Jugendarbeit«. Röcher weiß, wovon sie spricht, sie ist als Religionslehrerin für alle drei sächsischen Gemeinden zuständig. Den Jugendlichen werden gemeinsame Freizeiten, Schabbatot und sportliche Aktivitäten angeboten. Gemeindeaustritte aus Kostenersparnis kommen nach der Erfahrung von Ruth Röcher eher selten vor: Ein Mitglied hat einen Muslim geheiratet, ein zweites konvertierte zum Christentum. Da aber aufgrund des neuen Zuwanderungsgesetzes seit 2005 kaum noch Juden aus den ehemaligen Sowjetstaaten kommen, sei eine Abnahme der Mitgliederzahlen eine Frage der Zeit.
»Wir haben viele Karteileichen bei uns«, sagt Renate Wagner-Redding aus Braunschweig. Juden, die zwar Mitglieder der Gemeinde sind, aber keine Mitgliederbeiträge zahlen und höchstens zu den Hohen Feiertagen in die Synagoge gehen. Auch Wagner-Redding hat festgestellt, dass es vor allem die Alten sind, die regelmäßig kommen. Die 30- bis Anfang 50-Jährigen fehlen so gut wie ganz. Die ehemals in der Gemeinde aktiven Jugendlichen verlassen wegen des Studiums die Stadt. Die passiven Mitglieder lasten ihr am meisten auf der Seele. Sie werden mitgezählt, erhalten auch Einladungen zu den Versammlungen, zahlen aber keine Mitgliederbeiträge. »Doch rausschmeißen kann ich sie natürlich nicht.« So sind ihre Namen nur auf den Karteikärtchen vermerkt.

Aufsplitterung In Württemberg liegen die Probleme noch etwas anders. »Die Politik ist da ein Stück mit schuld«, sagt der ehemalige Landesrabbiner Joel Berger. Während der Zuwanderungswelle Anfang der 90er-Jahre hat das Land Juden aus den ehemaligen Sowjetstaaten auf viele kleine Orte verteilt. Heute spiegelt sich das in vielen kleinen Zweigstellen der IRGW wider. Die Integration und der Aufbau einer funktionierenden jüdischen Infrastruktur wurde dadurch erheblich erschwert. Hinzu kam, dass die Gemeinde es versäumt habe, die Mitgliedschaft ganzer Familien als er-
strebenswert und verbindlich anzubieten. So sind häufig nur Enkel und Großeltern Mitglied. Auch hier fehlt die mittlere Generation.
Prognosen Sorge, dass die Gemeinde aufgrund von Austritten verschwinde, habe er nicht, sagt Michael Szentei-Heise, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Seine These von einst: »Wenn sich die Zuwanderer erst einmal etabliert haben, dann werden 30 Prozent die jüdischen Gemeinden auch wieder verlassen«, habe sich für Düsseldorf nicht bewahrheitet. Nach Auskunft des Geschäftsführers sind in den vergangenen 20 Jahren etwa drei Prozent der Mitglieder ausgetreten.
Die Größe einer Gemeinde mag hier den Unterschied machen. Doch Austritte sind ein heikles Thema, weil die Mitgliederzahlen auch Grundlage für die Bemessung der finanziellen Förderung sind. Übereinstimmend stellen die Gemeindevertreter fest: Aktiv am Gemeindeleben nehmen Kinder bis ins Pubertätsalter und Senioren teil, die in der Gemeinde gesellschaftliche Ansprache erfahren. Die mittlere Generation fehlt. Ihnen ist die soziale Stellung wichtiger. Eine Identifikation mit der jüdischen Gemeinde gibt es kaum noch. »Die Einzigen, die die Gemeinden noch zusammenhalten können«, sagt der Bamberger Chasan, »sind Vorstand und Geistlichkeit.«

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